Kinderschutz in Hessen Mehr gefährdete Kinder werden aus Familien genommen

Die Jugendämter nehmen immer mehr gefährdete Kinder aus ihren Familien. Die Inobhutnahmen sind etwa in Wiesbaden, Kassel und Offenbach in den vergangenen Jahren gestiegen. Die Suche nach Einrichtungsplätzen für die betroffenen Kinder wird schwieriger.

Zwei kleine Puppen, die im Bett liegen, werden von zwei Händen bewegt.
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Die Hinweise kommen von Schulen, Nachbarn oder Sportvereinen: Die Meldungen über Kindeswohlgefährdungen haben in manchen Städten in Hessen deutlich zugenommen. 2022 gab es in Wiesbaden zum Beispiel 1.288 Meldungen; 2023 waren es doppelt so viele.

"Wir haben deutlich mehr Meldungen, aber tatsächlich auch mehr Fälle, in denen wir eine Gefährdung des Kindeswohls annehmen", sagt Daniela Leß, die Leiterin des Amts für Soziale Arbeit der Stadt Wiesbaden.

In 219 der im Jahr 2023 überprüften Fälle war die Gefährdung so groß, dass Kinder in Obhut genommen werden mussten – die höchste Zahl in Wiesbaden seit 2012. In der Statistik sind unbegleitete Minderjährige aus dem Ausland nicht mitgerechnet.

Daniela Leß hat rund 90 Beschäftigte, die sich für den Schutz von Kindern einsetzen. Mit viel Herzblut, wie Leß sagt. Die Arbeit des Teams sei aber auch oftmals frustrierend und das Stresslevel sehr hoch.

Anstieg auch in Offenbach, Kassel und Darmstadt

Nicht nur in Wiesbaden ist die Lage angespannt, auch in anderen Städten sind die Inobhutnahmen gestiegen. Das Jugendamt der Stadt Offenbach bestätigt schriftlich "den grundsätzlichen Eindruck, dass in den vergangenen Jahren häufiger eine Inobhutnahme notwendig wurde." Nach Angaben der Stadt gab es mit 157 Kindern im Jahr 2022 ein Rekordhoch, 2023 blieben die Inobhutnahmen mit rund 150 Fällen auf diesem hohen Niveau.

Auch in Kassel stiegen die Fälle von Inobhutnahmen, von 194 Fällen im Jahr 2021 auf 341 im vergangenen Jahr. Die Stadt Darmstadt meldet einen leichten Anstieg bei den Inobhutnahmen, ohne Einbezug von unbegleiteten Minderjährigen aus dem Ausland. Auffälliger sind dort die gestiegenen Meldungen von Kindeswohlgefährdung: In 33 Prozent der dem Darmstädter Jugendamt gemeldeten Fälle im vergangenen Jahr lag eine tatsächliche Gefährdung mit sofortigem Handlungsbedarf vor.

Schulen, Kitas und Vereine sind wichtige Hinweisgeber

Gründe für mehr Fälle von Kindeswohlgefährdung sieht Daniela Leß vom Wiesbadener Amt für Soziale Arbeit in einem gesamtgesellschaftlichen Druck, der sich auf die Familien auswirke: Wirtschaftliche Probleme durch die gestiegene Inflation oder der Krieg in der Ukraine, der viele verunsichere. Außerdem sorge eine Zunahme von psychischen Auffälligkeiten und Erkrankungen bei Eltern dafür, dass es "immer mal wieder zur Eskalation kommen kann."

Daniela Leß
Daniela Leß leitet das Amt für Soziale Arbeit der Stadt Wiesbaden. Bild © Wolfgang Griepentrog

Die Zunahme der Meldungen liege aber auch daran, dass es während der Corona-Pandemie weniger Hinweise aus der Bevölkerung gab. Kinder und Jugendliche seien nur sehr eingeschränkt in Schulen, in Kindertagesstätten oder Sportvereinen präsent gewesen, so Leß.

Diese Institutionen sind ihrer Einschätzung nach wichtige Melder von Kindeswohlgefährdungen und durch den Lockdown ausgeschaltet gewesen. Mit teilweise schwerwiegenden Folgen für Kinder und Jugendliche, so Leß: "Da sind Kinder über viele Jahre oder viele Monate nicht adäquat betreut worden."

Öffentlichkeit ist aufmerksamer geworden

Simone Pappert von den sozialen Diensten der Stadt Marburg spricht von einer hohen Belastung von Familien. Dadurch, dass die Belastung der Elternteile und Sorgeberechtigten ansteige, käme es häufiger zu Überforderungssituationen. Finanzielle Nöte, mangelnde soziale Netzwerke, alleinerziehende Eltern, Patchwork-Familien – diese Konstellationen könnten zu einer Überforderung führen und in Vernachlässigung oder auch Misshandlungen von Kindern münden.

Neben der Überforderung der Eltern sieht Jugendhilfeplaner Jost Schmidt-Bockstedte noch einen weiteren Grund für die zugenommenen Meldungen von Kindeswohlgefährdung. Die Öffentlichkeit sei aufmerksamer geworden: "Wir bekommen einfach viel mehr Informationen, als das noch vor vielen Jahren gewesen ist." Auch in Marburg sind die Fallzahlen im Bereich Gefährdung und Inobhutnahme in den vergangenen Jahren gestiegen.

Weitere Informationen

Inobhutnahme von Kindern

Bei einer akuten Gefahr für das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen in seiner Familie ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, eine Inobhutnahme durchzuführen. Kinder und Jugendliche können sich auch selbständig an das Jugendamt wenden und darum bitten, in Obhut genommen zu werden. Das teilt das Land Hessen mit. Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen.

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Mehr Kinderschutzverfahren in Hessen

Die Qualität der Entwicklungsprobleme bei Kindern sei schlimmer geworden, sagt Familienrichterin Doris von Werder vom Amtsgericht Wiesbaden, die eine deutliche Zunahme von Kinderschutzverfahren erkennt. Laut von Werder kommt es zum Beispiel vor, "dass Fünf- bis Sechsjährige nicht sprechen können." Würden Eltern den geforderten Maßnahmen nicht nachkommen, käme das Familiengericht ins Spiel, um im letzten Mittel zu entscheiden, ob das betroffene Kind aus der Familie genommen werden muss.

Beim Amtsgericht Kassel, das für die Stadt und den Kreis zuständig ist, hat sich die Zahl der neu eingegangenen Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung seit 2018 mehr als verdoppelt – von 115 auf 268 Fälle im Jahr 2023. Auch das Frankfurter Amtsgericht bestätigt, dass mehr Kinderschutzfälle verhandelt werden. In Frankfurt waren die Zahlen der Inobhutnahmen um knapp 16 Prozent zurückgegangen – von 635 Fällen (2019) auf 535 im Jahr 2022. Es fehlen in dieser Statistik unbegleitete Minderjährige aus dem Ausland.

Teilweise 100 Anrufe, um einen Platz in einer Einrichtung zu finden

Wenn Probleme in den Familien dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche in Hilfe-Einrichtungen untergebracht werden müssen, müssen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter oft lange nach Plätzen suchen.

Jara Hainer
Jara Hainer vom Jugendamt Fulda Bild © Stadt Fulda

"Wir suchen bundesweit und wir telefonieren teilweise wirklich 100 Einrichtungen durch, bis wir was gefunden haben", sagt Jara Hainer vom Jugendamt der Stadt Fulda. Vor ein paar Jahren habe man sich noch passgenaue Jugendhilfe-Einrichtungen aussuchen können, so Hainer: "Überspitzt sind wir inzwischen eher froh, wenn überhaupt eine Einrichtung Kinder aufnimmt."

Auch Daniela Leß vom Amt für Soziale Arbeit der Stadt Wiesbaden sagt: "Wir müssen sehr häufig nach Nord-, Ost- oder Süddeutschland ausweichen." Höhere Platzbedarfe träfen auf den Fachkräftemangel in der Branche. Laut Leß fehlen bundesweit momentan bis zu 20.000 Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter - nicht nur in den Jugendämtern, sondern auch in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.

Die Einrichtungen würden es teilweise nicht mehr schaffen, ihre Stellen und Schichten zu besetzen. Generell müsse mehr für das Berufsfeld geworben werden: "Wir machen eine sehr sinnstiftende Arbeit", sagt Leß.

Redaktion: Susanne Mayer

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Quelle: dpa/lhe