Neue EKHN-Kirchenpräsidentin Christiane Tietz: "Kirche kann nicht anders, als politisch zu sein"
Christiane Tietz wird am Sonntag als neue Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau ins Amt eingeführt. Im Interview erzählt die aus Frankfurt stammende Theologin, was sie in der Kirche nun angehen will.
Christiane Tietz ist die erste Frau an der Spitze der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) mit Sitz in Darmstadt. Am Sonntag wird sie als Kirchenpräsidentin in der Lutherkirche in Wiesbaden in das Amt eingeführt. Uns hat die Theologin bereits verraten, dass sie am liebsten Grüne Soße isst und ihr das Lied "Mensch" von Grönemeyer am Herzen liegt. Zudem wandert die gebürtige Frankfurterin gerne und fährt Ski.
Jetzt wartet aber erst einmal viel Arbeit auf die 57-Jährige, die bislang als Theologie-Professorin an der Uni Zürich tätig war. Im Interview spricht Tietz darüber, wie sie die EKHN zeitgemäß aufstellen will. Angesichts sinkender Mitgliederzahlen sei es wichtig, das Vertrauen der Gläubigen zurückzugewinnen. Tietz ist Pfarrerin im Ehrenamt in der Dreikönigsgemeinde in Frankfurt.
Das Gespräch führten Susanne Mayer und Stefan Kiske.
Ende der weiteren Informationenhessenschau.de: Frau Tietz, Sie sind jetzt die erste Frau an der Spitze der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Hätten Sie das je für möglich gehalten?
Christiane Tietz: Überhaupt nicht. Das war gar nicht in meiner Perspektive. Ich war ja zuletzt an der Uni Zürich und wurde dann aufgefordert, mich auf das Amt der Kirchenpräsidentin zu bewerben. Insofern haben sich plötzlich ganz neue Berufsperspektiven eröffnet.
Ich habe mich in den vergangenen Jahren auch als Theologie-Professorin schon ganz intensiv in der Kirche engagiert. Jetzt kann ich mich ganz einbringen, nicht parallel zu einem anderen Hauptberuf. Ich freue mich sehr darauf. Aber ich habe auch Respekt vor der Aufgabe. Denn es ist in diesen Zeiten kein einfaches Amt. Aber die Freude überwiegt.
hessenschau.de: Sie haben angekündigt, den Transformationsprozess in der Kirche voranzutreiben. Haben Sie schon Ideen, die Kirche zu modernisieren?
Tietz: Da gibt es natürlich ganz viele Formate, die ausprobiert werden. Zum Beispiel gibt es eine Jugendkirche in Gießen, wo keine Kirchenbänke stehen. Da stehen gemütliche Sessel in einem Halbkreis, eigentlich wie in einer Bar, auf denen die Jugendlichen am Gottesdienst teilnehmen können. In Jugendkirchen läuft das schon ganz locker.
Am Valentinstag können Menschen zum Beispiel mit ihren Partnern zu "Sekt und Segen" gehen, dort ein Glas Sekt auf die Beziehung trinken und sich segnen lassen. "Segen to go" können sich Menschen auch sonntags an einem Radweg holen. Das Interesse an solchen Ideen ist groß.
Ich kann auch nachvollziehen, dass junge Menschen nicht Sonntagfrüh in die Kirche wollen, sondern eher abends und vielleicht auch an anderen Tagen.
hessenschau.de: Apropos Jugend. Sie haben schon in jungen Jahren viel musiziert. Was ist heute eigentlich Ihr Lieblingssong?
Tietz: "Mensch" von Herbert Grönemeyer. Ich finde, er beschreibt toll, wie man als Mensch unterwegs ist: das intensive Glück, aber auch den Schmerz, die Zerbrechlichkeit und die Vergänglichkeit. Wenn das im Radio kommt, muss ich eigentlich immer weinen.
hessenschau.de: Ihr Vorgänger Volker Jung hat sich sehr für Demokratie eingesetzt und gegen Rechtsextremismus. Wollen Sie in dieser Hinsicht in seine Fußstapfen treten?
Tietz: Das möchte ich. Das ist mir genauso wichtig wie ihm. Weil die Demokratie, in der wir leben, von den Werten getragen ist, die wir als Kirche unterstützen: Menschenwürde, Menschenrechte sowie die Gleichheit aller Menschen und den Schutz von Minderheiten. Das sind die Grundwerte unserer Demokratie in Deutschland.
hessenschau.de: Hat die evangelische Kirche für Sie etwas Politisches?
Tietz: Sie kann nicht anders als politisch sein. Das Evangelium, also die Überzeugung, dass für Gott alle Menschen gleich wertvoll sind, hat politische Auswirkungen. Man kann nicht ausblenden, was das für Auswirkungen auf den Umgang miteinander hat. Insofern muss Kirche politisch sein.
hessenschau.de: Es ist sicher nicht einfach für Sie, den Mitgliederschwund in der Kirche mitanzusehen. Was macht diese Bestandsaufnahme mit Ihnen?
Tietz: Das macht mich sehr nachdenklich, weil ich überlege: Wie kann es gelingen, zu vermitteln, wie schön es ist, Mitglied der Kirche zu sein und welche Vorteile es hat? Man gehört zum Beispiel zu einer Gemeinschaft, die gemeinsame Werte vertritt. Einer Gemeinschaft, die sich sozial und solidarisch in der Gesellschaft engagiert. Und natürlich können Gläubige mit anderen über ihren Glauben sprechen, gemeinsam Gottesdienst feiern und beten.
hessenschau.de: Warum treten Menschen aus der Kirche aus?
Tietz: Dazu gibt es umfangreiche Untersuchungen. Einer der Hauptgründe ist die Kirchensteuer. Für mich bedeutet das, dass wir noch deutlicher machen müssen, was mit der Kirchensteuer passiert: Es ist ein Beitrag, der hilft, sich für Menschen und unsere Gesellschaft zu engagieren.
Der andere Grund ist, dass die Menschen sagen: Eigentlich bedeutet mir Religion, Glaube und Gott in meinem Alltag nicht mehr richtig was. Das müsste der zweite Ansatz sein: Mit Menschen darüber zu sprechen, warum es schön sein kann, im Glauben durchs Leben zu gehen. Warum es Hilfe und Kraft geben kann.
hessenschau.de: Ein weiterer Grund könnten auch die Missbrauchsfälle sein, die in der Evangelischen Kirche publik wurden. Es kam etwa die ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt heraus, in der Betroffene gehört werden.
Tietz: Es war ganz schrecklich, das zu lesen. Auf der einen Seite sind es die Zahlen. In Hessen-Nassau gab es seit der Gründung 98 Betroffene sexualisierter Gewalt, von denen wir wissen. Die Dunkelziffer dürfte größer sein.
Hinter jeder Zahl steht eine individuelle Lebensgeschichte. In der Studie steht, was den einzelnen Menschen widerfahren ist, und es ist besonders entsetzlich, dass es in der Kirche passiert ist. Weil die Betroffenen ganz oft erzählen: Das war eine Person, der ich vertraut habe.
hessenschau.de: Wie können solche Fälle künftig verhindert werden?
Tietz: Das Wichtigste ist, dass auf allen Ebenen der Kirche eine Sensibilisierung für dieses Thema entsteht. Also das heißt, dass Menschen aufmerksam sind, wo etwas passieren kann. Wir merken seit der Veröffentlichung der Studie, dass die Nachfrage nach Schulungen in diesem Bereich deutlich gestiegen ist.
Das nahe Miteinander in der Kirche ist wichtig für das Zusammenleben, wenn junge Menschen etwa zu einer Jugendfreizeit gehen. Dieses Miteinander wollen wir nicht aufgeben. Aber umso wichtiger sind gute Schutzkonzepte. Es muss potenziellen Tätern möglichst schwer gemacht werden.
hessenschau.de: Durch die sinkenden Kirchensteuer-Einnahmen sind die Kirchen zum Sparen gezwungen. Welche Bereiche sind davon betroffen?
Tietz: Es läuft der Prozess, dass wir die einzelnen Ortsgemeinden zu sogenannten Nachbarschaftsräumen zusammenlegen. Wir schaffen also größere Einheiten. Und dadurch können wir auf jeden Fall schon im Verwaltungsbereich sparen.
Es werden auch Gebäude überprüft. Wir können die Gebäude nicht mehr in der Weise finanziell unterstützen, wie wir das bisher gemacht haben, zum Beispiel bei Gemeindehäusern.
Aber natürlich tun wir uns überall schwer, weil wir den Eindruck haben, dass wir an vielen Stellen gute Arbeit leisten und den Umfang dieser Arbeit trotzdem zurückfahren müssen.
hessenschau.de: Es gibt ja auch Fachkräftemangel und Nachwuchsprobleme in der Kirche. Wie reagieren Sie darauf?
Tietz: Wir müssen zeigen, dass die Kirche ein attraktiver Arbeitgeber ist. Dass es Spaß macht, in der Kirche zu arbeiten. Es gibt zur Zeit konkrete Überlegungen, wie man das Theologiestudium so reformieren kann, dass es attraktiver wird. Wer für die Kirche arbeitet, hat es mit der Vielfalt des menschlichen Lebens zu tun.
hessenschau.de: Bevor Sie Theologie-Professorin an der Uni Zürich wurden, haben Sie ab 1986 in Frankfurt und später in Tübingen studiert. Was verbinden Sie noch mit der Uni Frankfurt?
Tietz: Ich verbinde damit, ins kritische Nachdenken gekommen zu sein. Ein Professor hat damals zu uns gesagt: Ob Sie zu Gott beten oder ob Sie ein Tagebuch schreiben, das ist genau das Gleiche. Ich dachte mir: Da muss es doch einen Unterschied geben.
Gerade in der Theologie ist das Spannende, dass die Kirche nicht sagt: Das musst du glauben, sondern dass man selbst darüber nachdenken kann. Bei mir sind in Frankfurt erste Fragen entstanden. Ich bin nach vier Semestern nach Tübingen gegangen. Dort habe ich das alles vertieft.
hessenschau.de: Ist es denn möglich, Glauben begreifbar zu machen?
Tietz: Man kann schon erklären, warum Menschen so glauben, wie sie glauben. Es geht gleichzeitig um eine Erfahrung, die ein Mensch macht. Diese kann man beschreiben, wie man auch beschreiben kann, wie es ist, wenn man verliebt ist.
Aber es ist natürlich schon noch etwas anderes, ob man selbst verliebt ist oder ob man so etwas wie Glauben erlebt. Wobei es beim Glauben so ist: Der eine fühlt das so, der andere fühlt das etwas anders. Darüber können sich Menschen austauschen. Ich denke, ich habe meinen Studierenden geholfen, den Glauben zu verstehen.