Träger schlagen Alarm Mädchenhäuser: dreimal so viele Anfragen, immer weniger Personal
Für manche Mädchen und jungen Frauen ist ihr Zuhause die Hölle. Einen Ausweg können anonyme Unterkünfte bieten. Doch die können den Betrieb nur schwer aufrechterhalten.
Es gibt Situationen, in denen Mädchen nicht mehr nach Hause zurückkehren können oder wollen. Dann muss eine Unterkunft für sie her. Für solche Notfälle gibt es in Frankfurt zwei Zufluchtsorte: Mädchenhäuser der Vereine FeM und Vaia. Beide bieten Mädchen und jungen Frauen in einer anonymen Unterkunft Schutz vor körperlicher, seelischer oder sexualisierter Gewalt. Und beide schlagen jetzt Alarm, dass ihr Betrieb auf der Kippe stehe.
Sandra Hertlein ist Sozialpädagogin im FeM-Mädchenhaus. Sie betreut im Wechsel mit anderen Sozialpädagoginnen rund um die Uhr neun Mädchen zwischen zwölf und 17 Jahren. Dazu gehören Krisenberatung, Therapiesitzungen und Freizeitangebote.
Hertlein sagt: "Die Mädchen kommen aus schwierigen Familienverhältnissen." Sie stammten aus Familien, in denen es psychische, physische und sexualisierte Gewalt gebe. Ihre Eltern litten häufig unter psychischen Krankheiten oder seien suchtkrank.
Alles schlimmer seit Corona
Die Sozialpädagoginnen unterstützen die Mädchen im Alltag, begleiten sie zu Arztbesuchen und Gerichtsterminen. Und sie hätten immer mehr zu tun, berichtet Hertlein. Die Corona-Pandemie sei für viele Mädchen sehr belastend gewesen, eine Zeit ohne Schulunterricht oder Hilfsangebote. Viele hätten umso mehr Zeit in Sozialen Netzwerken verbracht.
Es gebe mehr soziale Phobien, Essstörungen, Selbstmordversuche oder Drogensucht, bilanziert Hertlein: "Diese Kombination führt zu Verhaltensauffälligkeiten. Es kommt zu Gewalt in den Einrichtungen."
Die Arbeitsbelastung sei dadurch in den vergangenen Jahren extrem gestiegen. Hinzu kommt nach Aussage von Sandra Hertlein, dass sich die Anfragen in den vergangenen fünf Jahren verdreifacht hätten. 2019 habe es noch 106 Anfragen für die Unterkunft gegeben, 2023 seien es 391 Anfragen gewesen.
Bundesweit fehlten Unterbringungsmöglichkeiten für Mädchen und junge Frauen in Not, deshalb erreichten FeM auch Hilfsgesuche aus weit entfernten Orten. "Wir bekommen manchmal fünf bis sechs Anfragen am Tag", sagt Hertlein: "Zu entscheiden, wer einen freien Platz bekommt, ist extrem schwierig."
Fachkräftemangel treibt Träger um
Auf der anderen Seite fehle es in den Mädchenhäusern zunehmende an Personal. Nicht nur bei FeM sei dies der Fall, sagt Hertlein: "Wir befinden uns im Kollaps. Bundesweit werden Einrichtungen geschlossen, weil Personal fehlt."
FeM gehört zur Bundesarbeitsgemeinschaft Autonome Mädchenhäuser. Gemeinsam mit anderen Mädchenhäusern aus ganz Deutschlandweit hat FeM Anfang Juni eine Stellungnahme zum Fachkräftemangel veröffentlicht. Darin äußern sie die Befürchtung, dass viele Schutzräume für Mädchen vor dem Aus stünden.
Um das abzuwenden, fordern die Träger der Mädchenhäuser unter anderem: eine bessere Finanzierung der Schutzorte; mehr Personal; eine höhere Entlohnung; mehr Anerkennung von Berufsqualifikationen aus dem Ausland.
Sandra Hertlein berichtet von "zwei schon länger offenen Stellen bei FeM, die wir einfach nicht besetzen können". Die Arbeitsbedingungen in den Mädchenhäusern seien derart, dass Absolventinnen sich das nicht antun möchten. "Heutzutage passen die jungen Frauen sehr gut auf sich auf und wollen einen Job langfristig machen, ohne auszubrennen."
"Hilferuf war überfällig"
Der Träger Vaia berichtet von ähnlichen Problemen. Die gemeinnützige Gesellschaft richtet sich mit seinen Angeboten an Frauen von 18 bis 21 Jahren, die körperliche oder psychische Gewalt durch Angehörige erlebten oder von Zwangsheirat bedroht sind.
Vaia-Geschäftsführerin Marion Lusar spürt den Fachkräftemangel täglich. Der öffentliche Hilferuf an die Politik sei lange überfällig gewesen, sagt sie: "Wir haben über einen ganz langen Zeitraum hinweg versucht, irgendwie die Krise zu bewältigen. Jetzt ist die Situation aber so, dass wir fast keine Bewerbungen mehr bekommen."
Lusar findet, der soziale Beruf müsse deutlich aufgewertet werden: "Es müsste für stationäre Arbeit eine Erschwerniszulage geben. Und wir brauchen eine schnellere Anerkennung von ausländischen Abschlüssen." Die Vaia-Chefin berichtet von "einer Kollegin mit mehreren amerikanischen Abschlüssen, die alle nicht anerkannt worden sind. Die Frau musste dann wieder gehen."
Fehlende Hilfe kann lebensbedrohlich sein
Fehlende Unterbringungsmöglichkeiten könnten für die Hilfesuchenden lebensbedrohlich werden, betont Lusar: "Wir haben häufig Fälle, in denen die jungen Frauen tatsächlich mit dem Tode bedroht werden." Wer in keiner sicheren Bleibe unterkomme, müsse weiter in von Gewalt geprägten Verhältnissen ausharren.
Prävention wäre effektiver und günstiger als eine Intervention im Nachhinein, erklärt Sandra Hertlein: "Wenn Mädchen aus gewaltvollen Verhältnissen aussteigen können, ist das eine Art der Prävention. Dann werden Gewaltspiralen unterbrochen und nicht an die nächste Generation weitergegeben." Hier keinen Ausweg anzubieten, habe letztlich katastrophale Folgen für die gesamte Gesellschaft.
Gespräch mit SPD-Landtagsabgeordneter
Auf den Hilferuf der Bundesarbeitsgemeinschaft Autonome Mädchenhäuser gab es bereits eine Reaktion aus der Politik, berichtet Marion Lusar: "Ich treffe mich bald mit der frauenpolitischen Sprecherin der SPD im Landtag." Zusagen über konkrete Verbesserungsmaßnahmen durch die Landesregierung gebe es aber noch nicht.