Armut steigt, Spendenbereitschaft sinkt Kasseler Tafel nimmt keine neuen Kunden mehr auf
Die Kasseler Tafel setzt keine neuen Kunden mehr auf ihre Warteliste. Doch nicht nur dort ist die Tafel am Limit - auch andernorts in Hessen gibt es Aufnahmestopps. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Eine junge Frau ist mit ihrem Baby gekommen. Sie hat Glück, denn sie ist bereits Kundin der Kasseler Tafel. Alle zwei Wochen kann sie sich hier Lebensmittel abholen - für die ganze Familie. Andere haben diese Möglichkeit nicht. Denn die Tafel in Kassel hat einen Aufnahmestopp verhängt. Sie nimmt keine neuen Menschen mehr auf.
Die Warteliste ist einfach zu voll. 240 Namen stehen bereits darauf. Namen, zu denen ganze Familien gehören. Die ersten auf der Liste werden wohl erst ab März nächsten Jahres Brot, Obst und Gemüse abholen dürfen.
Die Kundin mit dem Baby findet den Aufnahmestopp nicht okay, wie sie auf Englisch erklärt: "Viele Menschen brauchen diese Hilfe. Sie brauchen sie, um zu überleben."
Lebensmittel für 5.400 Menschen
Waldemar Gries, Vorsitzender der Kasseler Tafel, verteidigt die Entscheidung, keine neuen Kunden mehr aufzunehmen. "Wir sind an unsere Grenzen gekommen" erklärt er. Das Zeitfenster für die Versorgung mit Lebensmitteln sei ausgereizt, sagt Gries, auch wenn die Tafel auf fünf hauptamtliche Mitarbeiter und 120 Freiwillige zählen könne.
Gestiegene Nachfrage, weniger Warenspenden
Doch die Nachfrage sei so enorm gestiegen, dass die Öffnungszeit an vier Vormittagen und drei Nachmittagen kaum ausreiche. Zusätzlich beliefert die Tafel das Frauenhaus, das Mädchenhaus, "Jumpers" - eine Initiative für Jugendliche, die Obdachlosenhilfe "Panama" und die Sankt-Joseph-Gemeinde.
250 Ladepunkte fahren vier Transporter auf ihren täglichen Touren an. Zwischen 70 und 90 Kisten liefern sie bei der Tafel ab. Knapp 2.000 Bedarfsgemeinschaften versorge die Tafel derzeit, "dahinter verbergen sich 5.400 Menschen".
Dabei steige die Nachfrage weiter, berichtet Gries, "weil wir in Kassel Armut haben". 18 Prozent der Kasseler Bevölkerung gelten laut dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands als arm oder armutsgefährdet, weil sie weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben.
Lage in ganz Hessen angespannt
Erich Lindner, stellvertretender Vorsitzender der Tafeln in Hessen, bestätigt die angespannte Situation für alle im Verein organisierten 57 Tafeln. Man habe im Jahr 2023 insgesamt circa 35 Prozent mehr Kundinnen und Kunden verzeichnet.
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs kämen verstärkt Kriegsflüchtlinge zu den Tafeln, so Lindner. Aber nicht nur das: Man beobachte verstärkt Alleinerziehende mit Kindern und Rentner bei den Ausgabestellen. Die Gründe dafür sieht er in der Inflation und den Preissteigerungen bei Waren des täglichen Bedarfs.
Die Tafeln versorgen hessenweit mehr als 120.000 Menschen mit Lebensmitteln. Die Situation habe sich verschärft, da neben einer gestiegenen Nachfrage immer weniger Warenspenden abgegeben würden. Mehrere Tafeln hätten daher bereits 2022 einen Aufnahmestopp verhängt.
Supermärkte kalkulieren knapper
Die Lebensmittel seien deutlich knapper geworden als vor fünf Jahren, berichtet der Kasseler Tafel-Chef Waldemar Gries. Trotz des steigenden Bedarfs seien die Spenden zuletzt um bis zu 40 Prozent gesunken.
Viele Supermärkte hätten weniger Nahrungsmittel übrig, weil sie knapper kalkulierten. Auch wenn noch immer elf Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr in Deutschland von Supermärkten, Erzeugern, Restaurants und Privathaushalten vernichtet würden, bleibe weniger für die Tafeln übrig.
Nicht unumstritten: Waren zukaufen
Die Tafel in Kassel hat sich deshalb entschieden, Waren zuzukaufen - vor allem Babygläschen, Windeln und Hygieneprodukte. Finanziert wird das aus Spenden von Kasseler Bürgern und Unternehmen. Das ist nicht unumstritten, denn in seinen hessenweit geltenden Grundsätzen spricht sich der Verein klar gegen Lebensmittel-Zukäufe aus.
Man habe das gemeinsam diskutiert, sagt Gries. In Kassel habe man aber den Bedarf gesehen und vor einem dreiviertel Jahr entschieden, für 4.000 Euro die Woche zuzukaufen.
Reaktionen auf Annahmestopp unterschiedlich
Der Stopp auf der Warteliste wird unterdessen von den Menschen unterschiedlich aufgenommen. Jutta Gurtmann muss Kunden wegschicken, die sich registrieren lassen wollen. Meist sei die Reaktion verständnisvoll, so Guttmann, "manche sind verärgert".
Für die Menschen, die vom Aufnahmestopp auf der Warteliste betroffen sind, gibt es einen schwachen Trost. Sie bekommen eine Notfalltüte mit ein paar Lebensmittel. Gries weiß, dass das nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Dennoch ist ihm eines wichtig: "Niemand geht bei uns hungrig weg."
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 28.11.2023, 19.30 Uhr
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