Müller-Erichsens Einsatz für Inklusion Die Mutter, die seit einem halben Jahrhundert für Rechte von Behinderten kämpft
Als Maren Müller-Erichsen in den 1970er Jahren einen Sohn mit Down-Syndrom auf die Welt bringt, ist ihr Umfeld entsetzt. Und: Ohne ihr Wissen wird sie noch während der Geburt sterilisiert. Seitdem kämpft sie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Hessen.
Es gibt einen kurzen Moment, in dem glaubt sie es fast selbst: Das Kind, das sie geboren hat, ist ein Monster. Als der Arzt ins Zimmer kommt, sagt er zur jungen Mutter: "Sie haben ein schwer behindertes Kind geboren - einen Idioten."
Es sind die 1970er Jahre. Bei der Geburt von Maren Müller-Erichsens zweitem Sohn stellt sich heraus: Olaf hat Trisomie 21. Im Umfeld der Mutter ist das Entsetzen groß. Fast niemand gratuliert oder will das Kind sehen. Eine Bekannte meint: "Die werden eh nicht so alt – zehn Jahre wirst du es wohl aushalten."
Maren Müller-Erichsen selbst kennt damals keine anderen Menschen mit Down-Syndrom, auch in den Medien kommen sie kaum vor, erinnert sie sich. "Und es gab nur zwei Bücher dazu - da waren aber ganz schreckliche Bilder drin."
Ein halbes Jahrhundert Einsatz für die Rechte von Behinderten
Gegen viele Widerstände und in Zeiten, in denen Inklusion für viele noch ein Fremdwort war, schlägt Maren Müller-Erichsen dann aber einen Weg ein, den sie fast ein halbes Jahrhundert lang nicht mehr verlassen wird: Sie kämpft für die Rechte und die Teilhabe ihres Sohns und vieler anderer Betroffener – und für ein besseres Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen.
Die inzwischen 84-jährige gilt heute als "Grande Dame" der Lebenshilfe. Seit fast 50 Jahren ist sie Aufsichtsratsvorsitzende der Lebenshilfe Gießen und baute dort zahlreiche Einrichtungen mit auf, darunter Kindergärten, Wohngruppen und eine inklusive Schule.
Lange Jahre war sie außerdem stellvertretende Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Hessische Landesbeauftragte der Menschen mit Behinderung.
Bouffier: Hommage an ihren Sohn und Dokument der Zeitgeschichte
Über ihren Kampf für die Rechte von Behinderten hat Müller-Erichsen jetzt ein Buch geschrieben. "Geliebte Kinder" heißt die Autobiographie, in der sie ihren eigenen Lebensweg und den ihres Sohns Olaf, der 2021 im Alter von 46 Jahren an Corona starb, nachzeichnet.
"Eine Hommage an ihren behinderten Sohn", schreibt Hessens früherer Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) im Geleitwort des Buchs. Aber noch viel mehr sei es ein glühendes Plädoyer für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. "Und auch ein Dokument der Zeitgeschichte."
Sterilisation ohne Einwilligung
Besonders erschütternd: Erst Jahre nach Olafs Geburt fand Maren Müller-Erichsen heraus, dass ohne ihr Wissen während des Kaiserschnitts eine Sterilisation bei ihr vorgenommen wurde. "Der Arzt wollte verhindern, dass ich noch weitere Kinder mit Behinderungen bekomme", erzählt sie.
Heute weiß sie: Die Zwangssterilisation war ein Überbleibsel des Gedankenguts der Nazi-Zeit und der Euthanasie-Gesetze. Noch in den 70er Jahren habe das Einverständnis des Ehemanns für solch einen Eingriff ausgereicht – und ihr inzwischen verstorbener Mann habe sofort zugestimmt.
"Er hat später dazu gesagt: Das war doch besser so - noch ein behindertes Kind, das hätten wir doch gar nicht geschafft", erzählt Müller-Erichsen.
Eine Kämpferin, die nicht locker lässt
Müller-Erichsen machte vieles radikal anders: Anstatt ihren Sohn direkt nach der Geburt in eine Einrichtung zu geben, zog sie ihn zu Hause auf.
Später meldete sie ihn nicht im Sonderkindergarten an, sondern in der kommunalen Kita, wo schon der ältere Sohn hinging. Ein Konzept für den Umgang mit Kindern mit Behinderungen habe es dort damals zwar nicht gegeben, aber man sei offen gewesen. "Das nannte man graue Integration."
Auch später ließ Müller-Erichsen nicht locker, wenn es darum ging, Konventionen aufzubrechen, etwa als Olaf mit Mitte 30 eine Spenderniere brauchte. "Die Ärzte haben es für sehr unwahrscheinlich gehalten, dass ein Mensch mit Down-Syndrom ein Spenderorgan bekommt - aber ich bin damit bis zum Ethikrat der Klinik gegangen", berichtet sie. Nach Jahren der Dialyse bekam Olaf schließlich 2005 eine neue Niere.
Lebenshilfe-Chef: "Lebenshilfe auf den Kopf gestellt"
"Sie ist eine revolutionäre Mutter, die damals die Lebenshilfe auf den Kopf gestellt hat und von Anfang an bis heute extrem visionär führt", sagt Dirk Oßwald, Geschäftsführer der Lebenshilfe Gießen über Müller-Erichsen.
Sie habe nicht nur die Lebenshilfe und die Region verändert, sondern auch die Bundespolitik. "Sie hatte schon damals ein Behindertenbild im Kopf, von dem die Gesellschaft noch kilometerweit entfernt war und es auch heute noch teilweise ist."
Neben ihrem Engagement in der Lebenshilfe engagierte sich Müller-Erichsen auch viele Jahren in zahlreichen Gremien: in der Uni, in Sozialverbänden, als CDU-Mitglied auch in der Kommunalpolitik.
Müller-Erichsen: "Paradoxe Gleichzeitigkeit"
Dabei vertritt sie auch Positionen, die durchaus anecken: Eine kritische Haltung zu Präimplantations- und Pränataldiagnostik zum Beispiel. Immer wieder weist sie auf etwas hin, was sie eine "paradoxe Gleichzeitigkeit" nennt:
Auf der einen Seite mehr Inklusion und Teilhabe – auf der anderen Seite mehr Schwangerschaftsabbrüche bei möglichen Behinderungen und der Wunsch, dies schon bei künstlichen Befruchtungen zu vermeiden.
Sie wolle niemanden verurteilen, sagt Müller-Erichsen. Und sie könne nicht sagen, was sie selbst getan hätte, wenn sie vor der Geburt etwas von Olafs Behinderung gewusst hätte. "Aber ich habe in all den Jahren noch nie einen Menschen mit Behinderung getroffen, der gesagt hätte: Ich wünschte, ich wäre nicht geboren worden."
"Ich habe diesen Sohn als mein Schicksal angenommen"
Dass auch Olaf Müller-Erichsen sehr gerne gelebt hat, kommt in zahlreichen von ihm selbst verfassten Texten durch, die seine Mutter in ihrem Buch veröffentlicht hat. Olaf stellt sich darin als selbstbestimmten und humorvollen Mann vor, der viele Ideen, große Träume und gute Freunde hatte, der Shakespeare liebte und eine genaue Vorstellungen davon hatte, wie sein eigenes Leben aussehen sollte.
Am 8. April jährt sich sein Todestag nun zum zweiten Mal. Dass ihr Sohn so jung sterben würde, damit habe sie nicht gerechnet, sagt Maren Müller-Erichsen. Der Verlust schmerze sehr. Noch immer habe sie zu Hause Kisten von ihm stehen, die sie bisher nicht habe auspacken können.
"Sein Leben war mein Leben", schreibt sie am Ende ihres Buchs. "Ich habe diesen Sohn als mein Schicksal angenommen. Erst aus Unwissenheit schockiert, dann von Liebe überwältigt."
Sendung: hr4, Die Hessenschau für Mittelhessen, 30.3.23, 15.30 Uhr
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