Verschwörungstheorie trifft Selbstverteidigung Mutmaßlicher "Reichsbürger" trainiert Straßenkampf im Odenwald
Mehr als Training? Ein "Straßenkampf"-Seminar in Lützelbach deutet auf eine Vernetzung mit der verschwörungsideologischen Szene hin. Geleitet wurde es von einem mutmaßlichen "Reichsbürger". Die Gemeinde fühlt sich getäuscht, der Staatsschutz ermittelt.
Es geht darum, wie man Gegner am besten in die Angst treibt. Es geht um Straßenkampf und wie man vom "Opfer zum Gegner" wird: Im April soll es bei einem "Straßenkampf-Wochenend-Seminar" in der Mehrzweckhalle im Lützelbacher Ortsteil Rimhorn (Odenwald) genau zu solchen Übungen gekommen sein. Zu dem Seminar wurde in einer regionalen Odenwälder Gruppe des Messengers Telegram eingeladen.
Ein Wochenende lang könne man die "härteste Form der Verteidigung" lernen. Über 35 Personen aus Südhessen, Bayern und Sachsen nahmen nach hr-Recherchen diese Einladung an und zahlten den Preis von 95 Euro. Einige von ihnen sind dafür bis zu fünf Stunden mit dem Auto angereist. Als erstes hatte das Recherchenetzwerk "Rhein-Main Rechtsaußen" auf seiner Internetseite auf die Veranstaltung hingewiesen.
Straßenkampf für Anfänger
Der martialische Eindruck des Flyers, der zum Seminar einlud, dürfte jedoch spätestens bei der Ankunft der Teilnehmer in Lützelbach verschwunden gewesen sein. An der unscheinbaren Mehrzweckhalle der rund 7.000 Einwohner zählenden Odenwälder Gemeinde sammelten sich Menschen mittleren Alters, auch Senioren nahmen teil. Sie trainierten, wie man sich von Griffen löst oder Schläge blockt. Auch mit einem Kubotan, einer Selbstverteidigungswaffe für den Nahkampf, wurde geübt. Das schildert ein Teilnehmer des Seminars dem hr.
Die Organisatoren des "Straßenkampf"-Seminars bestätigen dem hr, dass das Seminar "lediglich grundlegende Selbstverteidigungskenntnisse" vermitteln sollte. Der Begriff des "Straßenkampfes" beziehe sich demnach auf die Straßenkriminalität und daraus resultierende öffentliche Gewalt.
Gemietet unter falschem Vorwand
Der Bürgermeister der Gemeinde Lützelbach, Tassilo Schindler, zeigt sich empört über das "Straßenkampf"-Seminar in seiner Gemeinde. Dem hr schreibt er, dass die Mehrzweckhalle unter falschem Vorwand gemietet wurde. Angemeldet war sie für einen "Selbstverteidigungskurs für Jugendliche".
Schindler fühlt sich hintergangen. "Wäre bekannt gewesen, dass es sich um ein 'Straßenkampf'-Seminar handelt, wäre die Halle sicher nicht vermietet worden. Wir hätten die geplante Veranstaltung sogar bei der Polizei/Staatsschutz gemeldet", schreibt er dem hr. Die Gemeinde bedauere, dass es in ihrer Halle zu einer solchen Veranstaltung gekommen ist.
Trainer mit verschwörungsideologischem Hintergrund?
Eine nähere Betrachtung der Organisatoren lässt eine Vernetzung mit der verschwörungsideologischen Szene vermuten. "Euer Trainer Frank besitzt 25 Jahre Kampferfahrung", heißt es auf dem Flyer des Seminars. Neben seiner von ihm angegebenen Kampferfahrung besitzt Frank Müller aus Ludwigshafen auch jahrelange Erfahrung mit Verschwörungstheorien.
Mit "Metropolnews" und "Metropol Chronicles" unterhält er ein sogenanntes alternatives Nachrichtennetzwerk, dem auf Telegram über 11.000 Nutzer folgen. In seinem Videoblog "Zukunftskompass" kommentiert er tagesaktuelle Nachrichten und erreicht damit bis zu 15.000 Menschen.
Auf seiner Webseite veröffentlicht er Kommentare, die Deutschland als "illegale BRD-Besatzungsverwaltung" sehen, die "durch die Marionetten der angelsächsischen Geld-Elite" kontrolliert werden. Das "Deutsche Reich" sei der "Schlüssel für unsere Zukunft". Das Grundgesetz wird noch immer als eine "Notgesetzgebung in einem besetzten Gebiet" betrachtet.
Für den Verfassungsschutz sind das typische Phrasen der sogenannten "Reichsbürger"-Bewegung, die die Existenz der Bundesrepublik und deren Souveränität leugnen. Mit sogenannten "Zukunftsgesprächen mit Frank" bietet er persönlich auch Seminare in ganz Deutschland an. Das "Straßenkampf"-Seminar könnte also ein neues Geschäftsmodell zur Verbreitung von Verschwörungsideologien sein.
Kritische Inhalte publiziert und persönlich verbreitet
Diese Geschichtsumschreibung der sogenannten "Reichsbürger"-Bewegung weist Müller auf Anfrage des hr deutlich zurück. Die veröffentlichten Artikel seien von anderen Autoren geschrieben worden, er habe sie lediglich publiziert. Seit der Corona-Zeit beschäftige er sich nicht mehr mit der Ideologie der "Reichsbürger".
Ein erst im Mai 2024 hochgeladener "Zukunftskompass" in seiner Telegram-Gruppe zeigt jedoch anderes: Demnach sei die "Firma BRD, mit ihrer von den Alliierten eingesetzten Besatzungsregierung in Berlin, die konsequent gegen die Menschen hier arbeitet […] am Ende". Müller hat damit nicht nur Inhalte der "Reichsbürger"-Bewegung publiziert, sondern auch persönlich verbreitet.
Seminar nicht ausdrücklich politisch
In seinem "Zukunftskompass", den er täglich bei Telegram hochlädt, hält sich Müller mittlerweile zurück und kommentiert tagesaktuelle Geschehnisse meist stark linkskritisch und rechtsorientiert. Auch beim "Straßenkampf"-Seminar sei es nicht ausdrücklich zu einem politischen oder ideologischen Austausch gekommen, wie ein Teilnehmer des Seminars dem hr bestätigt.
Zusammen mit einem anderen mutmaßlichen Anhänger der "Reichsbürger"-Bewegung philosophierte er auf Youtube in der Vergangenheit beispielsweise über eine zukünftige Gründung und politische Gestaltung eines Neuen Deutschen Reiches und einem Plan, der im Hintergrund bereits laufe.
Sektenexperte sieht Verschwörungsnarrativ
Für Matthias Pöhlmann, evangelischer Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen, ist Müller trotzdem kritisch zu betrachten. Durch eine einfache, oft verklausulierte, Sprache mache sich der Verschwörungstheoretiker anschlussfähig.
Das von Müller wiederholte Infragestellen des deutschen Staates und seiner Organe, das Schüren von politischen Feindbildern, religionsfeindliche und völkische Haltungen, und die Angst vor einem bevorstehenden Untergang, seien problematische Rhetorik. "Man muss das Ganze vor dem Hintergrund eines Verschwörungsnarrativs sehen", sagt Pöhlmann. "Die Affekte richten sich gegen alle organisierten Formen, gegen Wissenschaft, gegen die Medien und gegen die Religion."
Gesellschaftlicher Sprengstoff, leise verbreitet
Nach dem "Straßenkampf"-Seminar bedankte sich Frank Müller bei den Teilnehmern und kündigte ein Auffrischungsseminar an. Das zeigen Screenshots der "Straßenkampf"-Chatgruppe, die dem hr vorliegen. Außerdem wurde zu einem seiner "Zukunftsgespräch"-Vorträge an der Bergstraße eingeladen. Eine Teilnehmerin schrieb, den Link auch an eine "gleichgesinnte Freundin" weitergeleitet zu haben.
Das leise Verbreiten von antidemokratischem Gedankengut, durch das auch andere Menschen in den Dunstkreis von Verschwörungstheorien und in eine Staats- oder Demokratiefeindlichkeit gezogen werden, bezeichnet der Sektenbeauftragte Pöhlmann als gesellschaftlichen Sprengstoff. "Es wird dadurch eine Allianz des Misstrauens geschmiedet und der Boden für Menschen vorbereitet, die bald sagen: Ich möchte mit dieser Staatsform nichts mehr zu tun haben."
Methode: Persönliche Beziehungen aufbauen
Benjamin Winkler, Experte für Reichsideologie bei der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin, stimmt der Einschätzung des Sektenbeauftragten zu. Unscheinbare Seminare, Vorträge, Kundgebungen oder Telegram-Kanäle seien die typischen Wege der Ideologienproduktion. "Dadurch kann man mit den Leuten auch eine wunderbare Beziehung aufbauen, die schnell persönlich und eng wird", sagt er. Ein Seminarangebot in kleinen Gemeinden sei ebenfalls typisch. "Dort greifen Ideologen ein lokales Bedürfnis nach Sicherheit oder aktueller Information auf."
Gerade weil sich Verschwörungstheoretiker wie Müller auf den ersten Blick nicht ideologisch ausdrücken, sei man auch oft gewillter, deren Inhalte länger zu verfolgen, sagt Winkler. "Man baut eine Beziehung zwischen Sender und Empfänger auf. Und je positiver das Bild des Senders, umso mehr sind Menschen auch bereit, die dann auf einmal härteren Inhalte zu glauben. Man spielt mit der mentalen Aufnahmefähigkeit des Publikums."
Staatsschutz eingeschaltet
In dem Fall in Lützelbach ermittelt die Staatsschutzabteilung der Polizei nach eigenen Angaben präventiv im Rahmen der Gefahrenabwehr. Das Polizeipräsidium Südhessen teilte dem hr mit, dass das Seminar den Ermittlern bekannt war.
Ein Auffrischungsseminar, das Ende Juli stattfinden sollte, ist abgesagt worden. Lützelbach stehe dafür nicht mehr zur Verfügung, betont Bürgermeister Schindler.
Sendung: hr-iNFO, 26.06.2024, 08.22 Uhr
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