Mutter-Kind-Haft in Frankfurt "Mama hat Scheiße gebaut, deshalb sind wir jetzt hier"

Als Mutter ins Gefängnis müssen und das eigene Kind zurücklassen - für viele straffällig gewordene Frauen ein Albtraum. Im Frauengefängnis in Frankfurt können einige von ihnen mit ihren Kindern zusammenleben. Es ist die einzige Einrichtung ihrer Art in Hessen. Ein Besuch.

Wir sehen den Rücken einer der inhaftierten Frauen mit ihrem Kleinkind auf dem Arm. Beide gucken aus dem Fenster.
Lisa lebt mit ihrer einjährigen Tochter Thea im Mutter-Kind-Heim des Frauengefängnisses in Frankfurt. Bild © Kim Horbach (hr)
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"Mama, Mama, guck mal - ich fahre mit dem Spiderman-Roller", ruft Julio. In mintgrünem Jogginganzug, Winterjacke und blitzsauberen Turnschuhen flitzt der aufgeweckte Vierjährige mit einem Tretroller über den Spielplatz. Sein großer Bruder Joel und die kleine Schwester Katalea sind mit Roller und Bobbycar dabei. Sie lachen und schreien, kicken zwischendrin mit einem Fußball.

So weit, so gewöhnlich - bloß: Der Spielplatz gehört zum Mutter-Kind-Heim der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Frankfurt-Preungesheim. Auf dem Rand eines großen Sandkastens mit Klettergerüst sitzt Diana, die Mutter der drei Kinder. Die schlanke Frau mit langen dunkelbraunen Haaren sitzt seit neun Monaten im offenen Vollzug. Verurteilt wurde sie zu über zwei Jahren Haft wegen Betrugs mit Handyverträgen, Schwarzfahrens und EC-Kartenbetrugs.

Dass sie ihre Kinder in der Haft bei sich haben kann, bedeutet der 32-Jährigen sehr viel. "Für mich wäre eine Welt zusammengebrochen, wenn wir getrennt worden wären", erzählt Diana, die ihren Nachnamen nicht veröffentlicht sehen will: "Ich war auch schon in einem normalen Gefängnis, und das ist wie Tag und Nacht zu dem, was wir hier haben."

Es fühlt sich kaum an wie im Gefängnis

Im Mutter-Kind-Heim können sich die Frauen und Kinder ziemlich frei bewegen. Sie haben einen eigenen Schlüssel zu ihrem Zimmer, es gibt keine Gitter vor den Fenstern, die Mitarbeitenden tragen Zivilkleidung und keine Waffen. Sie würden sehr menschlich behandelt und nicht wie Gefangene, findet Diana: "Die Angestellten spielen auch viel mit den Kindern, die Mamas können mit jedem Problem zu ihnen kommen."

Eine der inhaftierten Mütter steht auf dem Spielplatz der Justitzvollzugsanstalt. Damit man ihr Gesicht nicht sehen kann, ließ sie sich von hinten fotografieren.
Diana lebt seit neun Monaten mit ihren drei Kindern im Mutter-Kind-Heim der JVA Frankfurt. Bild © Kim Horbach (hr)

Auch ihre Kinder spürten nicht, dass sie einem Gefängnis seien. "Natürlich gibt es strenge Strukturen und Regeln, an die wir uns halten müssen, aber damit kommen wir klar", sagt Diana. Ihr Blick schweift über den Spielplatz, der nur durch einen Sichtschutzzaun von der umliegenden Nachbarschaft getrennt ist. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegen Ein- und Mehrfamilienhäuser.  

In der JVA Frankfurt III sitzen derzeit 250 Frauen ihre Strafe ab, es ist eines der größten Frauengefängnisse Deutschlands. Es bietet 23 Haftplätze speziell für Mütter, fünf davon im geschlossenen Vollzug. Dort dürfen die Kinder bleiben, bis sie drei Jahre alt sind, im offenen Vollzug, bis sie schulpflichtig werden. Aktuell sind zwei Mütter mit ihren beiden Kleinkindern im geschlossenen Vollzug untergebracht. Im offenen Vollzug sitzen fünf Frauen mit acht Kindern. Das älteste Kind ist sechs Jahre alt, das jüngste gerade im Januar in Haft geboren worden.

Kita mit Besonderheiten

Im Erdgeschoss des offenen Heims befindet sich die hauseigene Kinderbetreuung: ein Tobe-Zimmer mit Bällebad etwa, ein kindgerechtes Bad und Esszimmer, ein Raum mit Kinderbettchen für die Mittagsruhe, mehrere Spielzimmer. Viele Wände sind bemalt, von den Decken hängen bunte Girlanden und gebastelte Regenbögen.

Fast wie ein einer normalen Kita - mit einem Unterschied, sagt Erzieherin Ines Maus: "Für die Kinder, die mit ihren Müttern im geschlossenen Vollzug sind, sind wir die Verbindung zur normalen Außenwelt, denn die Mütter dürfen ja nicht raus."

Nahaufnahme eines herzförmigen Schilds, das an der Tür zum Trakt für Mütter mit Kindern in der JVA hängt. Zu lesen steht: Willkommen im Mutter-Kind-Heim
Eingangstür zum Mutter-Kind-Heim in der JVA Frankfurt III. Bild © Kim Horbach (hr)

Die Erzieherinnen holen und bringen die Kleinen jeden Tag von dort zur Betreuung im offenen Heim, begleiten sie zu Arztbesuchen oder machen Ausflüge mit ihnen, damit sie möglichst intensiv die Welt jenseits der Gefängnismauern erleben. "Deswegen sehnen sich die Kinder zum Teil auch nach uns, sie kommen gerne mit uns raus", erzählt Maus. Das sei immer eine gewisse Gratwanderung. "Wo tu' ich dem Kind was Gutes? Und wo tut es der Mutter auch ein bisschen weh, dass sie es selbst gerade nicht kann?"

Enger Kontakt zum Personal

Ines Maus schiebt schwungvoll ihre Brille auf den blond gesträhnten Kopf. Sie arbeitet seit 31 Jahren hier und hat in der Einrichtung viele Kinder begleitet, sie mit ihren Müttern kommen und gehen sehen. "Die Kinder wachsen uns natürlich ans Herz, wir bauen aber auch mit den Müttern eine enge, vertrauensvolle Bindung auf", erzählt sie: "Einerseits ist es traurig, aber andererseits gönnen wir es ihnen total, wenn sie uns dann wieder verlassen."

Der Alltag im Mutter-Kind-Heim sei nicht immer einfach, gibt sie zu. Mit dem engen Kontakt zwischen Insassinnen und Personal, den festen Regeln und dem durchstrukturierten Tagesablauf täten sich manche Mütter vor allem in der Anfangszeit oft schwer. Für die Erzieherinnen sei das Arbeiten wie auf dem Präsentierteller unter der kritischen Beobachtung der Mütter manchmal anstrengend.

Feste Tagesabläufe, getaktete Freizeit

Ein gemeinsames Frühstück steht jeden Morgen um 7 Uhr auf dem Programm, danach kommen die Kinder in die Betreuung. Die Mütter im offenen Vollzug gehen fünf bis sechs Stunden täglich einer Arbeit nach - manche innerhalb der Hafteinrichtung, manche auch draußen. Diana zum Beispiel hilft bei Wäsche- und Haushaltsdiensten in der JVA. Von 16 bis 19.30 Uhr dürfen die Frauen mit ihren Kindern nach draußen. Jede hat ein wöchentliches Stundenkontingent für Freizeit außerhalb der JVA.

Die 27-jährige Lisa spart sich viele dieser Stunden fürs Wochenende auf. Dann besucht sie mit ihrer einjährigen Tochter Thea (Namen verändert, d. Red.) ihren Mann und den vierjährigen Sohn daheim. Kostbare Momente für die junge Mutter. "Mein Sohn war zuerst auch mit mir hier", erzählt die blonde Frau mit den freundlichen braunen Augen: "Aber er hat einfach gespürt, dass das nicht sein normales Zuhause ist. Für ihn war es besser, beim Papa zu bleiben und mich jede Woche zu sehen." Der Kleine darf sie ab und zu auch in der JVA besuchen.

Ein kleines Mädchen an der Hand ihrer Mutter im Hof des Gefängnis
JVA-Insassin Lisa mit ihrer Tochter Thea. Bild © Kim Horbach (hr)

Lisa ist seit Juli wegen Internetbetrugs in Haft. Im April wird der Rest ihrer Strafe zur Bewährung ausgesetzt, dann darf sie mit der Kleinen nach Hause. "Ich freue mich so sehr darauf, nicht mehr ständig die Uhr im Blick haben zu müssen", sagt sie seufzend.

Eine WG, die sich keine ausgesucht hat

Die kleine blonde Thea sitzt vor ihr auf einer bunten Spieldecke. Zwei schmale Zimmer haben die beiden für sich, mit Wickeltisch, Bett und Gitterbettchen, mehreren Holzmöbeln, vielen bunten Spielsachen. Die Gemeinschaftsbäder sind auf dem Flur. Thea drückt ihr Gesicht immer wieder verschämt lächelnd an die Schulter ihrer Mama. Sie fühlt sich hier wohl, spielt mit den anderen Kindern, wirkt unbekümmert.

Auch die Frauen untereinander kämen meist gut miteinander klar, erzählt Lisa. Es sei "wie in einer WG, die man sich nicht selbst ausgesucht hat". Manchmal kochen die Frauen abends zusammen oder gehen gemeinsam einkaufen. "Wir sprechen auch viel über die Fehler, die wir gemacht haben", sagt Lisa.

Die Frauen können sich auch auch an eine Sozialarbeiterin oder eine Psychologin wenden. Lisa nahm das mehrere Monate lang in Anspruch, "weil ich meine Taten aufarbeiten wollte und weil ich es um keinen Preis der Welt mir und meinen Kindern noch mal antun möchte, in so eine Situation zu kommen".

Die Justizvollzugsanstalt von außen
Die JVA Frankfurt von außen. Bild © Kim Horbach (hr)

Die JVA hat Lisa einen Job in einem Callcenter außerhalb des Gefängnisses vermittelt. Für die Zeit nach der Haft möchte sich Lisa wieder einen Job als Verkäuferin suchen.

Geburtstage oder Weihnachten im Gefängnis

Über Weihnachten durfte die junge Mutter eine knappe Woche Hafturlaub zu Hause verbringen. Für die Frauen im geschlossenen Vollzug gibt es diese Möglichkeit nicht. Ines Maus und ihre Kolleginnen sind auch dann präsent. "Die Frauen sind in Gedanken bei ihren Familien, die weit weg sind. Manche haben draußen ja auch noch ältere Kinder", sagt Maus. Das seien schwere Momente, die den Frauen niemand abnehmen könne. Auch Diana hat schon die Feiertage in Haft verbracht "Das ist für alle schlimm, die Stimmung ist da wirklich auf Null", sagt sie.

Kindergeburtstage hier zu feiern, das sei für die Mamas oft härter als für die Kids selbst, sagt Lisa: "Das ist schon ein sehr einschneidendes Erlebnis, vor allem weil es ja besondere Momente sind, die wir nicht wirklich festhalten können." Denn Handys sind in der JVA verboten. Auch wichtige Entwicklungsschritte der Kinder - wie die allerersten Schritte oder Wörter - verpassten die Familien draußen oft durch die Trennung. Lisa geht es selbst mit ihrem Sohn so. "Das tut schon weh, Kinder machen ja jeden Tag irgendwie eine kleine Entwicklung."

"Mama hat Scheiße gebaut, deshalb sind wir jetzt hier"

Für Lisa und Diana überwiegen die schönen Momente, die sie mit ihren Kindern im Gefängnis erleben können. Rumzusitzen und rumzuheulen bringe niemandem etwas, betont Diana: "Zumal wir ja selbst daran schuld sind, wir müssen das Beste daraus machen."

Ihr ältester Sohn Joel ist sechs Jahre alt, nach ihrer Haftentlassung soll er eingeschult werden. Er ist das älteste Kind im Mutter-Kind-Heim und nimmt seine Umgebung schon bewusster wahr als die jüngeren. Viele begriffen gar nicht, dass sie in einer besonderen Umgebung aufwüchsen, beobachtet Erzieherin Ines Maus: "Die Kinder nehmen die Abläufe als ganz normal an. Die kindgerechten Bedingungen lassen sie nicht spüren, wo sie sind."

An einer Hauswand stehen viele Spielzeuge für die Kinder der inhaftierten Mütter
Spielgeräte auf dem Hof im Mutter-Kind-Heim. Bild © Kim Horbach (hr)

Joel stelle schon Fragen, erzählt Diana, "zum Beispiel, warum wir immer erst nachmittags raus dürfen und nicht, wann wir wollen - das kennt er von zu Hause ja ganz anders". Sie habe ihm die Situation so erklärt: "Die Mama hat Scheiße gebaut, und deshalb müssen wir jetzt eine Zeit lang hier bleiben. Das hat er gleich akzeptiert."

Der schlanke Junge mit kurzen, dunkelbraunen Haaren hält bei einer Runde über den Spielplatz mit dem Tretroller neben ihr an. "Hier gefällt's mir hundertmal besser als zu Hause bei Oma", erzählt er mit fester Stimme: "Hier können wir auch viel spielen mit den anderen Kindern, klettern oder im Fernsehzimmer Serien schauen, das finde ich schön."

Einzigartig in Hessen und Vorreiter in Deutschland

Die Mutter-Kind-Einrichtung in der Frankfurter Justizvollzugsanstalt ist die einzige in Hessen und war die erste ihrer Art in ganz Deutschland. Ende der 1950er Jahre brachte die damalige Anstaltsleiterin Helga Einsele die Idee auf, 1975 wurde das offene Mutter-Kind-Heim eröffnet, später kam das geschlossene Heim dazu. "Das Ziel war damals, eine Trennung von Mutter und Kind vor allem in der ersten Zeit nach der Geburt zu vermeiden", sagt die heutige Abteilungsleiterin Mihaela Möller, "eine Bindung zwischen Mutter und Kind entstehen zu lassen und zu festigen."

Die Einrichtung gilt als Vorzeigeprojekt der hessischen Justiz. Der neue Justizminister Christian Heinz (CDU) bezeichnet sie als "eine große Errungenschaft, die es in Hessen seit fast 50 Jahren gibt". Am wichtigsten sei das Wohl des Kindes. "Eine Trennung der Kinder von ihrer Mutter im Kleinkindalter ist schädlich für ihre Entwicklung. Deswegen versuchen wir, wo immer es geht, den Kontakt aufrecht zu erhalten - auch im Justizvollzug", betont Heinz. Im bundesweiten Vergleich sei die hessische Justizpolitik schon früh progressiv gewesen und habe die Resozialisierung der Gefangenen angestrebt.

Porträt der Leiterin des Mutter-Kind-Heims der Justizvollzugsanstalt Frankfurt
Mihaela Möller leitet das Muter-Kind-Heim in der JVA Frankfurt. Bild © Kim Horbach (hr)

Heute gibt es auch in anderen Bundesländern Mutter-Kind-Haftplätze. Derzeit stehen bundesweit rund 80 Plätze im offenen Vollzug und knapp 40 Plätze im geschlossenen Vollzug zur Verfügung. Meistens sind sie nicht alle belegt.

Die Mutter-Kind-Haft wird in jedem Einzelfall sorgfältig geprüft - auch mit den Jugendämtern, die die Kosten für die Unterbringung der Kinder tragen. Die Mutter dürfe zum Beispiel nicht suchtkrank sein, sagt Möller. Entscheidend sei, "dass es draußen keine bessere Alternative für das Kind gibt, etwa bei Familienangehörigen". Und natürlich spielt die schwere des Vergehens eine Rolle. Im Mutter-Kind-Heim sollen die Frauen Erziehungskompetenzen lernen, "damit die Kinder die Liebe und Zuwendung draußen weiterhin bekommen, die sie hier erfahren", sagt Mihaela Möller.

Neubau geplant

Das Gebäude des offenen Mutter-Kind-Heims in Frankfurt ist in die Jahre gekommen. In zwei Jahren würden das bestehende Haus abgerissen und ein neues gebaut, so Möller. Die Zimmer erhielten dann auch eigene kleine Bäder. Nach Angaben des Justizministeriums soll der Neubau rund 15 Millionen Euro kosten und 2028 fertig werden.  

Lisa und Diana werden voraussichtlich wegen guter Führung in den nächsten Monaten mit ihren Kindern entlassen. Der Rest ihrer Strafen wird dann zur Bewährung ausgesetzt. Die beiden Frauen haben sich neben anderen Vorsätzen für das Familienleben draußen eines fest vorgenommen: Den Neubau des Mutter-Kind-Heims der JVA möchten sie niemals von innen sehen.

Weitere Informationen

Sendung: hr-iNFO, 26.02.2024, 9.40 Uhr

Redaktion: Stephan Loichinger

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Quelle: hessenschau.de