Langfristige Unterstützung gefordert Nahostkonflikt stellt Schulen vor besondere Herausforderungen

Die Terrorattacke der Hamas auf Israel ist Thema auch an Schulen in Hessen. Um auf Auseinandersetzungen und Antisemitismus vorbereitet zu sein, gibt es vom Kultusministerium Handlungsempfehlungen für die Schulen. Lehrkräften reicht das nicht.

Pro-Israelische Gegendemonstranten halten ein Transparent mit der Aufschrift "Das Problem heißt: Antisemitismus".
Pro-Israelische Demonstration. Bild © dpa
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Antisemitismus – wie Schulen mit dem Nahostkonflikt umgehen

Antisemitismus – wie Schulen mit dem Nahostkonflikt umgehen
Bild © hr
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Es war ihr nicht ganz wohl dabei, die aktuelle Eskalation des Nahostkonflikts in ihrer Klasse anzusprechen, sagt Anja W.* Sie ist Lehrerin an einer Frankfurter Gesamtschule und möchte ihren richtigen Namen nicht veröffentlichen.

Sie unterrichtet Schülerinnen und Schüler mit Wurzeln in aller Welt - darunter solche, deren Eltern "auch mal wütend in die Schule kommen, wenn hier Themen anders besprochen werden als zu Hause".

Schüler informieren sich über fragwürdige Quellen

Sie habe das Thema proaktiv in den Unterricht aufgenommen, erzählt Anja W. Es sei emotional geworden in der Klasse, bei einigen Schülerinnen und Schülern sei dabei Antisemitismus offen zutage getreten. "Das war erschreckend", sagt die Lehrerin. Denn wenn sie etwa Literatur zum Nationalsozialismus im Unterricht behandle, seien die Schüler, die aus einem "guten Bildungsbürgertum" stammten, durchaus empathisch.

Das sei aktuell anders. Einer der Gründe sei, dass sich nicht wenige Jugendliche über fragwürdige Internet-Quellen informierten. Dort werde das Massaker der Hamas vom 7. Oktober teils gar nicht erwähnt, oder es werde heruntergespielt. Teils werde bezweifelt, ob es überhaupt stattgefunden habe, berichtet W. Fehlinformationen spielen nicht nur beim Nahostkonflikt eine Rolle, weiß sie und fordert, Medienkompetenztraining dringend in den Lehrplan aufzunehmen.

"Im Lehrplan kein Raum für aktuelle Themen"

Ähnliches hört Boris Krüger, Kreisvorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes Hessen (dlh) in Kassel aus seiner Kollegenschaft. Schüler mit arabischem Migrationshintergrund sagten, "dass in ihren Medien der Konflikt anders dargestellt wird als in unseren". Und: Wenn Pro-Palästina-Demonstrationen eingeschränkt würden, sei das aus ihrer Sicht eine Einschränkung der Meinungsfreiheit.

Es sei kaum möglich, der Komplexität des Nahostkonflikts in der Schule gerecht zu werden, betont Krüger weiter. Das Thema sei in der Oberstufe in Geschichte zwar optional vorgesehen, doch als nur eines von anderen. "Es gibt im Lehrplan keinen Raum für aktuelle Themen." An seiner Schule in Kassel, der Albert-Schweitzer-Schule, werde es im Religionsunterricht intensiv besprochen.

Konflikt emotionalisiert Schüler aller Altersstufen

Es sei zudem lehrerabhängig, wie der Nahostkonflikt behandelt werde, ergänzt die Landesschulsprecherin Louise Terhorst. Wegen seiner Komplexität sei das Thema eher in der Oberstufe angesiedelt. Ausgerechnet dort seien Zeitpläne aber besonders knapp gefasst und es sei kaum möglich, tagesaktuelles Geschehen zu integrieren.

Dass das Kultusministerium schon kurz nach dem Massaker der Hamas eine Materialsammlung für Lehrkräfte zur Verfügung stellte, loben sowohl Krüger als auch Anja W. Sie stellen aber auch fest, dass es damit allein nicht getan sei. Der Nahostkonflikt emotionalisiere Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen und Schulformen, weiß Anja W., immer wieder weinten Kinder dabei auch. Diese müssten aufgefangen werden.

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Materialien zum Thema

Mitte Oktober rief Kultusminister Alexander Lorz (CDU) die Schulen auf, die Situation im Nahen Osten "altersgemäß zu thematisieren". In einem Unterstützungspaket für Lehrkräfte sind unter anderem Hilfen zum Umgang mit Konflikten und zur emotionalen Unterstützung von Kindern und Jugendlichen gesammelt. Auch die GEW bietet Informationsmaterial auf ihrer Website an.

Die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt bietet Online-Fortbildungskurse zum Nahostkonflikt für Lehrkräfte an. Ein Format nennt sich "Wie reden über die Terroranschläge in Israel?" Dabei soll darüber gesprochen werden, wie Lehrkräfte einen pädagogischen Raum schaffen können, um Schülerinnen und Schülern offen zu begegnen. Das weiteres Angebot heißt "Wie umgehen mit der Bilderflut nach Terror und Krieg?". Hier geht es um Orientierung in den sozialen Medien.

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"Man muss immer wieder darüber reden"

Viele muslimische Jugendliche wiederum hätten Verbindungen in die Region und teils "ererbte" Glaubenssätze, aber auch Traumata in ihren Familien. "Als Schule ist es schwer, das aufzubrechen", sagt sie. Aber der Nahostkonflikt müsse immer wieder Raum bekommen, "man muss immer wieder darüber reden." Dafür brauche es nachhaltige Projekte: "Ich kann nicht mal eben ein Video zwischen Englisch und Deutsch zeigen."

Boris Krüger vom dlh sieht das ähnlich: "Das Thema wird uns nicht loslassen", sagt er. "Wir müssen wissen, welches Thema wird dafür aus den Lehrplänen rausgenommen." Er wünscht sich zudem mehr Stellen in der Schulpsychologie. Gerade würden von staatlicher Seite aber auch Angebote zur Antisemitismusprävention gemacht. "Mein Eindruck ist: Man ist da hinterher und nimmt die Brisanz des Themas wahr", sagt er.

GEW: Konflikt mit dem Holocaust verknüpft

Lehrkräfte bräuchten konkrete und strukturelle Unterstützung, zum Beispiel durch einen Ausbau der Schulsozialarbeit und der schulpsychologischen Angebote, betont Thilo Hartmann, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung Wissenschaft (GEW) Hessen. Wichtig sei vor allem aber Zeit für pädagogische Arbeit und demokratische Bildung, gerade im Hinblick auf den Nahostkonflikt.

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Denn: "Was diesen Konflikt von anderen unterscheidet, ist, unter anderem, die Verknüpfung mit der deutschen Geschichte, dem Holocaust", sagt Hartmann. Und: Mitunter unterschieden sich "die persönliche Lebenserfahrung und Betroffenheit von Lehrkräften auf der einen und die von Schülerinnen und Schülern auf der anderen Seite häufig in deutlichem Maße".

Lehrerin: Kinder befähigen, eigene Meinung zu bilden

Anja W. hat erlebt, dass Verständigung funktionieren kann. Sie habe in einer Klasse den Konflikt um den Tempelberg in Jerusalem behandelt, einen der heiligsten Orte für Juden, Christen und Muslime. Sie habe zeigen wollen, wie komplex die Situation ist und wie schnell eine Gewaltspirale entstehen kann. Am Ende hätten die Schüler kreative Vorschläge erarbeitet, um aus dieser wieder herauszukommen.

Die Lehrerin ist sich sicher: "Wir müssen das Thema immer wieder besprechen, Fakten sortieren und dürfen keine Angst haben, auch andere Meinungen zu diskutieren - damit die Kinder ihr Wissen erweitern und sich letztendlich eine eigene Meinung bilden können."

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"Nur vereinzelt" Vorfälle an Schulen in Hessen

Dem Kultusministerium und einigen staatlichen Schulämtern des Landes liegen keine Erkenntnisse dazu vor, ob jüdische Schülerinnen und Schüler dem Unterricht in den vergangenen Wochen ferngeblieben sind. Zu antisemitischen, israelfeindlichen oder islamistischen Parolen und Wandschmierereien sei es "bisher nur vereinzelt" gekommen, teilte das Kultusministerium dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Wiesbaden auf Anfrage mit.

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*Name und Schule der Redaktion bekannt.

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Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 13.11.2023, 16.45 Uhr

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Quelle: hessenschau.de