Steuerung per Gedanken und Muskeln Neue Hightech-Prothese: Fast so beweglich wie eine echte Hand
Wer eine Hand verliert, steht schon bei kleinen Aufgaben vor einer Herausforderung. Eine neue Hightech-Prothese verspricht den Betroffenen rasche Hilfe. Gesteuert wird sie wie eine echte Hand: per Gedanken und Muskeln. Eine der führenden Kliniken auf diesem Gebiet sitzt in Frankfurt.
Konzentriert greift Arturas Cicenas in die Kiste, die vor ihm auf dem Tisch steht. Im ersten Anlauf verfehlen die Finger den kleinen Holzklotz, doch beim zweiten Versuch hat er ihn fest im Griff, fixiert zwischen Daumen und Zeigefinger. Vorsichtig hebt der 32-Jährige den Klotz an, setzt ihn auf der Tischplatte ab und öffnet die Hand.
Er nimmt einen zweiten Klotz auf und platziert ihn präzise auf dem ersten. Jede Fingerbewegung ist begleitet von einem leisen, mechanischen Surren. Sechs der Spielsteine setzt er insgesamt aufeinander, so dass ein kleiner Turm entsteht.
Klötze stapeln, Schrauben durch Löcher stecken, einen Becher anheben – Aufgaben, die für Menschen mit zwei gesunden Händen keine Herausforderung darstellen, muss Cicenas gezielt trainieren. Vor drei Jahren hat er seine Hand bei einem Arbeitsunfall an einer Maschine verloren. Die neue Hightech-Hand ist für ihn ein Segen. "Nach meinem Unfall, als ich die Prothese bekommen habe, habe ich mich gefreut als hätte ich meinen Arm wieder", sagt der junge Mann aus Osthessen.
Bisher komplizierte Steuerung
Ergotherapeutin Sina Wilhelm unterstützt den 32-Jährigen bei seinem Training an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik (BGU) in Frankfurt. "Es ist wichtig, dranzubleiben, immer wieder Dinge auszuprobieren", erklärt sie. "Das ist am Anfang sehr anstrengend für die Patienten, aber dafür sind wir da und trainieren jeden Tag in der Therapie." Sowohl an der Fein- als auch an der Grobmotorik wird gearbeitet, damit den Betroffenen alle wichtigen Alltagsbewegungen auch mit ihrer neuen Hand präzise gelingen.
Ein riesiger Fortschritt in der Prothesen-Technik macht es ihnen nun wesentlich leichter. Denn bisher waren die Ersatzhände in ihrer Funktion deutlich limitiert – und der Umgang mit ihnen kompliziert, wie Sebastian Benner, leitender Oberarzt der Technischen Orthopädie der BGU, erklärt. Nur zwei Bewegungen – das Öffnen und das Schließen der Hand – waren damit recht einfach auszuführen.
Für alle anderen Handgriffe musste der Patient die Muskeln im Unterarm in einer bestimmten Reihenfolge ansteuern, wie eine Art Morsezeichen. Zweimal Beugen, einmal strecken, und die Hand schließt sich zum Bechergriff. "Man sieht schon, da steckt mehr dahinter: Der Patient muss viel zur Ergotherapie, er muss viel üben und immer sicher seien: Ich möchte einen bestimmten Handgriff machen, dazu gehört diese Abfolge."
Neue Prothese: Steuerung wie bei echter Hand
Die neuartige Prothese dagegen, die sogenannte myoelektrische Hand, funktioniert intuitiv. Sich Abfolgen zu merken ist nicht mehr nötig. Der Patient kann sie steuern, wie er es mit seiner echten Hand auch getan hat: über seine Gedanken und die zugehörigen Muskeln.
Dafür werden acht Elektroden um den Armstumpf positioniert, wie Benner erklärt. Ein Großteil der Muskulatur, über die die Handbewegung gesteuert wird, sitzt im Unterarm und ist auch nach der Amputation noch vorhanden. "Der Patient muss nur das machen, was er vorher auch gemacht hat: Er bewegt seine Muskulatur, die acht Elektroden greifen das ab und die Hand bewegt sich so, wie sich auch die echte Hand bewegt hätte."
Vor allem in der Reha-Phase sei das von Vorteil, denn der Betroffene habe schnell Erfolge. "Der Patient sieht, ich mache alles wie vorher – und dann passiert einfach, was ich mir vorstelle." Der Fortschritt sei deshalb so groß, weil er die Akzeptanz stark erhöhe, so Benner. Früher, mit dem Umweg über die Morsezeichen, hätten Patienten ihre Prothese oft irgendwann weggelegt, weil der Umgang anstrengend und kompliziert war.
Die Prothese muss lernen
Trotzdem ist regelmäßiges Training nötig – und eine Kalibrierung. Denn die intelligente Prothese muss dazu lernen und nachjustiert werden, damit die Bewegungen möglichst präzise sind. Die Ersatzhand erhält viel Technik und ist das Ergebnis intensiver Forschungsarbeit, wie André Klenner, Orthopädietechniker in der BGU, erklärt. "Da stecken verschiedene Mikroprozessoren drin, die in Millisekunden das Ganze umrechnen und einstellen."
Auch bei Arturas Cicenas ist eine neue Kalibrierung nötig, wie Klenner bei der Überprüfung an diesem Tag schnell erkennt. Jede Handbewegung, die Cicenas macht, lässt sich als Muster der Muskelanspannung aus acht Punkten – den Elektroden – auf dem Tablet darstellen. Je genauer das erzeugte Muster sich mit dem vorgegebenen deckt, desto besser entsprechen die Bewegungen der Prothese dem, was der 32-Jährige erzielen wollte.
Dafür ist ein neues Einspielen dieser Muster nötig, so Klenner. Auf Kommando muss Arturas Cicenas nun seine Hand öffnen und wieder schließen, sie nach außen und nach innen drehen. Das Muster der Muskelanspannung wird dabei genau registriert. "Je öfter man diese Muster neu einspielt, desto feiner wird das Muster in der Prothese, in dem Computer", so Klenner. "Das heißt es ist einfacher für ihn, es auszulösen."
Die Grenzen der Technik
Einige Grenzen hat aber auch die neue Technik. Vor allem der Tastsinn, der in der Hand sehr fein ausgebildet ist, lässt sich nicht nachbauen. Auch die Beweglichkeit ist limitiert, sagt Oberarzt Benner. "Die Hand kann zwar jeden einzelnen Finger steuern – was sie aber nicht kann, ist die Finger spreizen." Bei der Arbeit an der Computertastatur sei das zum Beispiel eine Schwierigkeit.
Trotzdem ist die Hightech-Prothese so gut, dass die Anfragen an Benner zugenommen haben. "Seitdem kommen auch Patienten in meine Sprechstunde, die vor 20 Jahren amputiert wurden." Die bisherigen Prothesen hätten sie oft mehr gestört als ihnen genützt, berichtet Benner. "Die Patienten kommen jetzt und wissen, es gibt etwas Neues – und wir versorgen sie mit diesen neuartigen multi-artikulierenden Händen."
Rund 20 Patientinnen und Patienten, denen nach einem Arbeitsunfall eine Hand oder ein Teil des Arms fehlen, werden in der BGU laut Benner jährlich behandelt. Sie ist eine der führenden Kliniken auf diesem Gebiet, selbst aus Bremen und dem Süden Bayerns kämen Betroffene nach Frankfurt, so der Oberarzt.
Gegen den Phantomschmerz
Die Prothese bietet einen weiteren großen Vorteil: Sie hilft gegen den Phantomschmerz, den viele Betroffene im nicht mehr vorhandenen Arm oder Bein spüren. Das liegt am Zusammenspiel von Muskulatur und Gehirn, wie Benner erklärt. "Weil der Patient weiterhin seine Muskulatur so bewegt, wie er es vorher getan hat, ist auch eine Rückkopplung zum Gehirn gegeben und die Phantomschmerzen werden deutlich unterdrückt."
Auch Cicenas profitiert davon, seine Schmerzen haben nachgelassen. Inzwischen hat er eine neue Arbeit gefunden und kann dank der Prothese auch wieder besser mit seinen beiden Kindern spielen. "Natürlich war es schlimm, aber wie man im Leben sagt: Es könnte auch schlimmer sein", sagt er. Er komme mit der Prothese gut zurecht und will weiter fleißig trainieren.
Sendung: hr-fernsehen, Die Ratgeber, 24.04.2023, 18.45 Uhr
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