Scout-Projekt in Offenbach Letzte Chance für notorische Schulverweigerer
Jeder zehnte Offenbacher Schüler fehlt regelmäßig im Unterricht, manche für immer. Ein Projekt will die zurückholen, denen sonst der Schulabbruch droht: Einblick in ein Klassenzimmer, in dem es um Geduld, Konsequenz und die grundsätzlichsten Fähigkeiten geht.
Die größte Herausforderung stellt sich für die Schülerinnen und Schüler des Scout-Projekts oft schon vor Unterrichtsbeginn: pünktlich in der Klasse erscheinen. An diesem Tag gelingt das nur den wenigsten, obwohl der Unterricht anders als an klassischen Schulen erst um 9 Uhr beginnt.
"Die Kinder müssen erst lernen, pünktlich und geregelt zu kommen - und das fällt ihnen häufig recht schwer", erklärt Angela Volz. Die Lehrerin sitzt in dem kleinen Klassenzimmer in Offenbach und wartet. Es ist kurz nach 9 Uhr. Noch immer fehlen zwei der Jugendlichen.
Frank Wiehe, Leiter des Projekts und Sozialpädagoge beim Jugendamt der Stadt, greift zum Telefon. Im Fall von Nafi zeigt der Anruf bei den Eltern Wirkung: Nach einer Viertelstunde ist der 13-Jährige da.
Bei Ayse reicht der Anruf dieses Mal nicht aus. Doch wer kein Attest hat, muss erscheinen. "Uns ist es wichtig, dass sie merken, dass wir das nicht einfach so hinnehmen." Wiehe macht sich auf den Weg, er will Ayse persönlich zuhause abholen. Ein längeres Gespräch ist nötig, erst dann ist sie bereit, mitzukommen.
"Letzte Chance, in den Schulbetrieb zurückzukehren"
Es ist ein Kampf um jeden Einzelnen, der an den bisherigen Schulen der Jugendlichen nicht zu leisten gewesen wäre. Dass Schülerinnen und Schüler nicht zum Unterricht erscheinen, ist in Offenbach keine Seltenheit. Nach Angaben des Jugendamts der Stadt fehlt jeder Zehnte regelmäßig.
Nur die besonders schweren Fälle landen bei Scout. "Viele von ihnen sind seit Jahren nicht mehr in die Schule gegangen", erklärt Wiehe. Die Schule habe sie dann vor die Wahl gestellt: Entweder sie nehmen am Projekt teil - oder das Jugendamt wird mit einbezogen. "Es ist die letzte Chance, dass sie überhaupt noch in den Schulbetrieb zurückkehren." Die drohende Alternative: Ein Schulabbruch, und damit häufig einhergend eine fehlende Perspektive.
Seit elf Jahren wollen die Beteiligten Schulverweigerern helfen, dieses Szenario noch abzuwenden. Das Projekt ist eine Kooperation des Offenbacher Jugendamts und des staatlichen Schulamts. Bundesweit sei es in dieser Form einzigartig, sagt Wiehe, denn: "Wir sind kein Anschlussprojekt an die Schule, sondern wir sind eine Klasse ausserhalb der Schule." Alle Teilnehmer sollen nach dem Schuljahr wieder an ihre alten Schulen zurückkehren.
Wenige Schüler pro Jahr
Sieben bis acht Schülerinnen und Schüler werden pro Schuljahr im Rahmen von Scout unterrichtet. Der 13-jährige Nafi hat das Projekt als Chance auf eine bessere Zukunft erkannt, wie er sagt - auch wenn es mit der Pünktlichkeit an manchen Tagen noch hapert. "Mein Ziel ist es, auf eine normale Schule zu gehen und den Abschluss zu machen", sagt der Sechstklässler.
Die Fehler aus der Vergangenheit wolle er nicht noch einmal machen. Durch falsche Freunde sei er in die Kriminalität abgerutscht. Die Vormittage hat er lieber mit ihnen verbracht als im Klassenraum, mit "Leute ärgern" und Diebstahl, wie er erzählt. Diese Freunde will er nun nicht mehr treffen.
Lesen, rechnen, Schuhe binden
Stattdessen holt er Lernstoff nach. Nach einem halben Jahr hat er sich in Mathe und Deutsch verbessert. Noten gibt es hier nicht, einen Lehrplan ebensowenig, und auch nur wenige Fächer. "Wir orientieren uns an den Leistungen, die die Schüler mitbringen", erklärt Wiehe das Konzept. Meistens hätten sie große Lücken, die es aufzuarbeiten gelte: "Sachen, die sie in der Grundschule nicht mitgekriegt haben: Lesen, Schreiben, Kopfrechnen."
Dazu fehlten bei einigen Schülern alltägliche Fähigkeiten fernab des Stoffs, wie Lehrerin Volz erklärt. "Sie können die Uhr nicht lesen, sie können keine Schuhe binden, sie wissen nicht, wie man ein Brötchen schneidet - das sind alles Dinge, die man hier lernt."
Vielfältige Gründe für das Fernbleiben
So unterschiedlich die Defizite sind, so verschieden sind auch die Jugendlichen und die Gründe, aus denen sie in der alten Schule gefehlt haben: falsche Freunde, Überforderung, familiäre Probleme - aber auch psychische, wie bei Amélie.
"Wegen Mobbing und einer sozialen Phobie bin ich hier", erzählt die 13-Jährige, "weil ich es nicht mehr in die Klasse geschafft habe." Ihr sei übel geworden, sie habe sich nicht mehr getraut, in die Schule zu gehen. Bei Scout hilft ihr die enge Bindung zu den Lehrern. "Man versteht sich automatisch besser mit ihnen, weil sie sich sehr auf dich konzentrieren."
Auch der sanfte Wiedereinstieg hat ihr bei der Rückkehr in den Klassenraum geholfen. "Das ist auf jeden Fall leichter als in einer normalen Schule, weil wir am Anfang nur zwei Stunden hatten." Die Zahl der Stunden steigert sich im Laufe des Schuljahrs. An mindestens drei Tagen in der Woche findet Unterricht statt, dazu unternimmt die Klasse Ausflüge, zum Beispiel ins Museum.
Nur zwei bis drei schaffen es
Trotz aller Anstrengung: Am Ende gelingt nur zwei oder drei der Schüler die dauerhafte Rückkehr in den normalen Schulalltag, wie Wiehle sagt. "Wir versuchen immer irgendwie, eine Perspektive für die Schüler zu entwickeln", so der Projektleiter. "Wenn es die Regelschule nicht werden soll, entwickeln wir eine andere Möglichkeit." Manche müssten therapeutisch behandelt werden, andere die Schule wechseln.
Aber irgendwo enden die Möglichkeiten zu helfen, weiß Lehrerin Angela Volz. "Man kann ein Stück begleiten, man kann hoffe, dass man irgendwas ein bisschen besser gemacht hat oder einen Impuls gesetzt hat, der vielleicht irgendwann mal trägt - aber mehr nicht."