Förderzentren schlagen Alarm Neugeborene in Mittelhessen: Werden alle Hörbehinderungen entdeckt?

Es ist ein dramatischer Verdacht: Mindestens 30 Babys aus Mittelhessen sollen eine Hörbehinderung haben – und ihre Eltern wissen nichts davon. Dabei ist eine frühe Diagnose mit anschließender Förderung wichtig.

Bei einem kleinen Baby wird ein Apparat ans Ohr und an den Kopf gehalten
So laufen die Hörscreenings bei Neugeborenen ab Bild © Imago Images

Der fünfjährige Aras Celik entdeckt gerade das Sprechen für sich. Viel zu spät - würden einige sagen. Aber für Aras ist es ein Erfolg, dass er langsam einen Wortschatz aufbaut und sich mit seiner Schwester und seinen Eltern verständigen kann. Denn er hat von Geburt an eine Hörbehinderung.

Frühförderung extrem wichtig

Seine Fortschritte beim Hören und Sprechen sind kein Zufall. Direkt nach der Geburt wurde bei einem Hörtest Aras' Hörbehinderung entdeckt. Er erhielt eine Diagnose, ein Hörgerät und seit seinem ersten Lebensjahr Frühförderung vom Förderzentrum in Friedberg.

ein kleiner Junge, ein kleines Mädchen, eine Frau und ein Mann sitzen auf einem dunklen Sofa
Aras Celik und seine Familie Bild © hessenschau.de

Die Leiterin des Zentrums, Barbara Ebert, kommt ein Mal pro Woche zu Aras. Sie sieht, welche Fortschritte er macht: "Mittlerweile ist er ganz offen, geht in Blickkontakt, schaut die Menschen an, versucht sich mitzuteilen." Diese Entwicklung sei ohne Diagnose und Förderung direkt nach der Geburt kaum möglich gewesen.

Wo sind die Neugeborenen mit Hörbehinderung?

Im Frühförderzentrum von Barbara Ebert melden sich pro Monat rund vier bis fünf Familien - normalerweise. Aber seit Oktober 2024 kam keine einzige. Statistisch gesehen fehlen also rund 30 Neugeborene. Das macht sie unruhig: "Ich glaube nicht daran, dass jetzt über Nacht ein Wunder passiert ist und es keine Kinder mehr mit einer Hörschädigung gibt."

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Hörbehinderungen bei Kindern

Seit 2009 wird bei allen Neugeborenen in Hessen ein Hörscreening durchgeführt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind mit einer versorgungsbedürftigen Schwerhörigkeit geboren wird, liegt bei etwas über 1:1000. Dementsprechend ist in Hessen statistisch von circa 75 bis 100 Kindern mit versorgungsbedürftiger Schwerhörigkeit auszugehen. Eine frühe Diagnostik ist wichtig, denn zwischen dem 6. und dem 18. Lebensmonat findet die sensible Phase des Hörens statt - entscheidend für die Sprachentwicklung (Quelle: UKGM Gießen-Marburg).

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Die Hörtests bei Neugeborenen laufen grundsätzlich so ab: Kurz nach der Geburt machen die Geburtskliniken oder Hebammen einen groben Hörtest. Wenn der auffällig ist, werden die Babys zu einem Kinderarzt oder einer Kinderärztin geschickt. Wenn sich dort der Verdacht bestätigt, werden die Familien an die Expertinnen und Experten der Päd-Audiologie am Uniklinikum Marburg überwiesen.

Eine Frau Anfang60 steht an einer Straße in einem Dorf und schaut in die Kamera.
Barbara Ebert leitet das Frühförderzentrum Friedberg. Bild © hessenschau.de

Dort wird eine Diagnose ausgestellt, bevor eine Überweisung an ein Frühförderzentrum wie das von Barbara Ebert in Friedberg erfolgt. So zumindest die Theorie. Denn seit Oktober 2024 scheint es irgendwo in dieser Screening-Kette zu haken.

Ursache am Uniklinikum Gießen-Marburg?

Eine Erklärung könnte die Umstrukturierung der Päd-Audiologie am Uniklinikum Marburg sein. Unter anderem wegen des Fachkräftemangels habe die Päd-Audiologie Teile ihrer Arbeit ausgelagert, sagt die Klinik auf hr-Anfrage: "Für die früher am Standort durchgeführte Screening- und Re-Screening-Untersuchungen haben wir verstärkt auf Kooperationen mit den vorgenannten primär verantwortlichen Einrichtungen am Standort und vertragsärztlich tätigen Kolleginnen und Kollegen zurückgegriffen."

Eine Sparmaßnahme, die möglicherweise Folgen hatte. Denn seit der Auslagerung der ersten Screenings im Oktober 2024 kommen keine Familien mehr zu Barbara Ebert. Womöglich, weil die Screenings außerhalb der Päd-Audiologie nicht mehr so zuverlässig sind und dort weniger Kinder erkannt werden.

Werden die Kinder diagnostiziert?

In der Päd-Audiologie selbst könne das Problem nicht liegen, behauptet das Uniklinikum: "Alle Eltern von Neugeborenen beziehungsweise von Kindern, bei denen eine versorgungsbedürftige Hörstörung diagnostiziert wurde, werden eingehend über die Möglichkeiten der Frühförderung aufgeklärt."

Die Frage ist nur: Werden überhaupt Kinder diagnostiziert? Kommen sie überhaupt in der Päd-Audiologie an? Auf die Nachfrage des hr, wie viele Neugeborene seit Oktober 2024 eine Diagnose erhalten haben und an ein Frühförderzentrum überwiesen wurden, antwortet das Uniklinikum nicht.

Elternvertreterin: "Holt das Hörscreening bitte nach!"

Auch für Nicole Schilling bleiben Fragen offen. Sie vertritt Eltern, die Kinder mit einer Hörberhinderung haben. Die Nachricht, dass im Frühförderzentrum Friedberg keine Kinder mehr auflaufen, hat sie auch schon erreicht: "Es hat uns total geschockt, aufgerüttelt, entsetzt. Wir als Eltern von einem Kind mit Hörbehinderung wissen, was das bedeutet."

Ihr liegt eine Sache sehr am Herzen: Die Neugeborenen mit Hörbehinderung zu finden, die es statistisch gesehen in Mittelhessen geben muss, die aber nicht den Weg zur Frühförderung gefunden haben. Die Vorsitzende der Elternvereinigung hörgeschädigter Kinder in Hessen e. V. fordert alle jungen Familien, die im letzten halben Jahr Nachwuchs bekommen haben auf, das Hörscreening nachzuholen oder bei unklarem Ergebnis besser noch einmal zu machen.

Verpasste Frühförderung fatal für Kinder

Ein Vorschlag, der personell für die Kinderärztinnen und -ärzte sowie die Päd-Audiologie in Marburg kaum zu stemmen sein dürfte. Der aber wichtig wäre. Ohne zuverlässige Hörscreenings werden Hörbehinderungen bei Babys oft nicht entdeckt. Wertvolle Entwicklungszeit geht verloren – die ersten Monate und Jahre sind entscheidend für das Hören und die Sprache.

Ein kleiner Junge mit einem Hörgerät spielt mit Baggern
Aras Celik würde ohne sein Hörgerät nahezu nichts hören. Bild © hessenschau.de

Bei Aras haben die Screenings und die Förderung gegriffen. Beim spielerischen Sprachtraining mit Barbara Ebert formt er aus grüner Knete einen Bagger - ein Wort, das er kann. Und dazu den Baggerfahrer: Seinen "Papa". Abdurrahman Celik lächelt, als Aras ihm die Figur zeigt: "Wir sind dankbar, dass er Frühförderung bekommt. Sie geben Aras die Unterstützung, die er braucht."

Die Frühförderung - eine Chance, die viele junge Familien in Mittelhessen aktuell nicht wahrnehmen. Womöglich, weil sie von der Hörbehinderung ihrer Neugeborenen noch gar nichts wissen.

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau,

Quelle: hessenschau.de