"Neutralitätspflicht missinterpretiert" Fast 1.800 Wissenschaftler kritisieren Unionsfraktion

Eine Anfrage der Union zur Finanzierung von Organisationen und Initiativen löst eine Protestwelle unter Wissenschaftlern aus ganz Deutschland aus. In einem offenen Brief kritisieren sie CDU/CSU deutlich für diesen Schritt. Ein Mitinitiator aus Hessen wertet die Anfrage als hochproblematisch.

Menschen protestieren gegen rechts, ein Teilnehmer hält ein Pappschild mit der Aufschrift: "Wir sind die Brandmauer".
Protest gegen Rechtsruck Bild © picture-alliance/dpa

Fast 1.800 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben einen offenen Brief zu einer Kleinen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag unterzeichnet, darunter zahlreiche Forschende aus Hessen. Die Anfrage vom 24. Februar beinhaltete 551 Fragen an die Bundesregierung zu verschiedenen Nichtregierungsorganisationen und deren Förderung.

Publik wurde die Anfrage kurz nach der Bundestagswahl, das Echo war enorm. Ihr Hintergrund waren die bundesweiten Proteste nach einer erstmaligen gemeinsamen Abstimmung der CDU/CSU mit der AfD über eine Verschärfung des Asylrechts im Bundestag.

CDU stellt Gemeinnützigkeit infrage

Die Demonstrationen seien teils von gemeinnützigen Vereinen oder staatlich finanzierten Organisationen wie "Omas gegen Rechts", Attac und Campact organisiert oder unterstützt worden, hieß es in der Anfrage - die das als Grund anführte, um die Gemeinnützigkeit dieser Organisationen infrage zu stellen.

Staatliche geförderte Organisationen dürften sich nicht parteipolitisch engagieren, ohne diesen Status zu gefährden, hieß es weiter.

Wissenschaftler: Anfrage hat "konfrontativen Unterton"

In ihrem am Dienstag veröffentlichten offenen Brief schreiben die Wissenschaftler, sie nähmen die Anfrage "mit großer Besorgnis" zur Kenntnis, auch weil ein "konfrontativer Unterton" erkennbar sei. Dabei sei gerade in Zeiten globaler Verwerfungen und bei steigendem Misstrauen gegenüber der Demokratie eine demokratische Zivilgesellschaft "so wichtig wie nie".

Sie sei eine "tragende Säule demokratischer Willensbildung" und sollte gestärkt werden, betonen die Wissenschaftler, "gegen die weitere Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft".

Organisationen haben keine Neutralitätspflicht

Ein zentraler Kritikpunkt der Unterzeichnenden ist dabei die Rechtsauffassung der Unionsfraktion zur politischen Neutralität ziviler Organisationen.

Es sei "verfassungsrechtlich nicht haltbar", heißt es in dem offenen Brief, dass die Union suggeriere, "dass staatlich geförderte Organisationen einer Neutralitätspflicht unterliegen, die sich aus der Neutralitätspflicht des Staates ableitet".

Die Neutralitätspflicht des Staates beziehe sich lediglich auf das Handeln der Exekutive, nicht aber auf die Meinungsäußerungen und die politische Arbeit unabhängiger zivilgesellschaftlicher Akteure.

Organisationen behalten recht auf Meinungsfreiheit

Maximilian Pichl, Professor für Soziales Recht als Gegenstand der Sozialen Arbeit an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden, ist einer der Initiatoren des Briefes. Er sieht die Neutralitätspflicht in der Anfrage "missinterpretiert".

"In einer demokratischen rechtsstaatlichen Gesellschaft kann der Einsatz für Rechtsstaat und Demokratie nie politisch neutral sein, weil es eben auch um die Verteidigung der Demokratie geht", sagte Pichl am Dienstag hessenschau.de.

"Wenn zivilgesellschaftliche Organisationen öffentliche Gelder erhalten - was gar nicht alle tun - werden sie nicht zu einem verlängerten Arm des Staates", betonte er. Sie behielten ihre Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Was genau von der Satzung der Organisationen gedeckt sei, müssten sich die Finanzbehörden anschauen, sagte Pichl. Viele dieser Organisationen machten ihre Finanzen auch öffentlich, hätten sich etwa der Initiative "Transparente Zivilgesellschaft" angeschlossen.

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Wissenschaftler: Anfrage stigmatisiert

In ihrem offenen Brief zeigen sich die Unterzeichner außerdem besorgt, dass die Kleine Anfrage das verschwörungserzählerische Narrativ eines "tiefen Staates" aufgreife.

Dieses unterstelle, dass die genannten zivilgesellschaftlichen Organisationen in unzulässiger Weise die politische Willensbildung in der Bundesrepublik beeinflussten, dass ihrer Arbeit ein Makel anhafte oder dass sie eine schädliche Wirkung hätten.

Narrative wie diese bauten Druck auf und stigmatisierten, sagte Pichl. Das sei ein "autoritäres Moment", das Demokratie-Forschende unter anderem in Ungarn beobachtet hätten. Dort habe die Regierung zum Steuerrecht gegriffen, um zivile Initiativen als "ausländisch finanzierte Organisationen" zu stigmatisieren.

Auch hierzulande könne eine Nennung dafür sorgen, dass Organisationen "ins Visier von Agitation" gerieten.

Forderung nach Demokratiefördergesetz

Eine Sorge, der sich bis Dienstagnachmittag insgesamt 1.769 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Fachrichtungen anschlossen. Der Zuspruch habe ihn überrascht, sagte Pichl, aber "eine solche Sorge fällt nicht vom Himmel, Demokratieprojekte sind ja schon länger im Visier."

Ihren Brief schließen die Forschenden unter anderem mit der Forderung, ein Demokratiefördergesetz einzuführen. Und einem Appell an die CDU/CSU-Fraktion: "Der Erosion demokratischer Kultur und dem Erstarken von Populismus und Rechtsextremismus kann nicht gegeneinander, sondern nur gemeinsam entgegengewirkt werden."

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Amnesty, "Omas" und Co. antworten Union ebenfalls

Auch rund 200 Organisationen und Einzelpersonen haben die Vorwürfe der CDU in einem offenen Brief zurückgewiesen. Eine kritische und engagierte Bürgerschaft sei kein Störfaktor, sondern stärke das Land, heißt es darin. Zu den Unterzeichnern gehören neben Amnesty International Deutschland und dem Deutschen Kinderhilfswerk, lokale Gruppen der Initiative "Omas gegen Rechts", die katholische Friedensbewegung Pax Christi und die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands. Sie schreiben: Die Union stelle ehrenamtliche Initiativen, gemeinnützige Vereine, Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen unter Generalverdacht, statt demokratisches Engagement zu würdigen, zu schützen und zu stärken.

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Quelle: hessenschau.de