Initiative aus Frankfurt Operationen für Frauen mit Genitalverstümmelung nun auch in Hessen

In Hessen leben schätzungsweise 17.000 Frauen mit Genitalverstümmelung. Für sie baut eine Frankfurter Hilfsorganisation mit medizinischen Fachleuten ein regionales OP-Angebot auf. Es könnte die Lebensqualität der Betroffenen extrem verbessern.

Mehrere Frauen bei einer Demonstration in Berlin, sie halten Plakate hoch mit den Botschaften "1918 Einführung Frauenwahlrecht" und "2013 Weibliche Genitalverstümmelung = eigener Straftatbestand"
Teilnehmerinnen einer Demonstration am Weltfrauentag 2023 in Berlin. Bild © picture-alliance/dpa (Archiv)
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Mehr als ein Vierteljahrhundert liegt der Tag zurück, an dem Halima Abdullahi (Name geändert, Anm. d. Red.) beschnitten wurde - mit sieben Jahren. Trotzdem erinnert sich die Somalierin, die heute im Rhein-Main-Gebiet lebt, genau daran.

Ihre Oma hatte damals zwei Beschneiderinnen eingeladen, die mit Scheren und anderem Werkzeug kamen. Was die beiden vorhatten, wusste das Mädchen nicht. Als die beiden mit der Prozedur begannen, mussten vier weitere Frauen Halima festhalten. Sie blutete stark und schrie vor Schmerzen. Irgendwann wurde sie bewusstlos.

So wie Halima Abdullahi damals geht es Millionen Frauen weltweit noch heute. Ihnen werden - meist noch im Kindesalter - die Klitorisspitze und oft auch die Vulvalippen abgeschnitten und manchmal sogar die Vaginalöffnung zugenäht. Nicht alle überleben das. In einigen Ländern wie Somalia oder Dschibuti ist nahezu jede Frau beschnitten, in anderen sind vor allem einzelne Regionen betroffen.

Ihr Leben lang mit Folgen zu kämpfen

Auch in Deutschland leben zehntausende beschnittene Frauen, allein in Hessen geht eine Dunkelzifferstatistik der Hilfsorganisation Terre des Femmes von 17.000 aus. Die meisten von ihnen sind zugewandert und wurden in ihren Heimatländern beschnitten. In Deutschland ist die Praxis verboten und gilt als schwere Menschenrechtsverletzung.

Hawo Abdulle, eine Frau mit Kopftuch, sitzt vor einem Computer an einem Schreibtisch und blickt in die Kamera
FIM-Beraterin Hawo Abdulle Bild © hr

Halima Abdullahi - kindliches Gesicht, leise Stimme - ist heute 33 Jahre alt. Ihr Leben lang hatte sie mit den Folgen der Genitalverstümmelung zu kämpfen: Komplikationen bei den Geburten ihrer beiden Kinder; extreme Schmerzen im vernarbten Gewebe während der Menstruation; Infektionen; kein Lustempfinden beim Sex.

Doch seit wenigen Monaten geht es Halima Abdullahi viel besser - dank einer Genitalrekonstruktion. Bei dieser aufwendigen Operation werden nicht nur die abgetrennten Teile der Vulva wiederhergestellt. Sogar die Sensibilität und das Lustempfinden können wiederhergestellt werden.

In Aachen operiert

Das Verfahren hat Dan mon O'Dey entwickelt, Facharzt für plastische Chirurgie und Chefarzt am Aachener Luisenhospital. Er ist bislang der einzige Mediziner in Deutschland, der die mehrstündige Operation durchführt. Halima Abdullahi hat sich im vergangenen Sommer in Aachen von ihm operieren lassen. Und fühlt sich heute, wie sie sagt, "wie eine andere Frau".

Möglich gemacht hat das die Frankfurter Organisation Frauenrecht ist Menschenrecht (FIM), die sich auf die Beratung von Migrantinnen spezialisiert hat. In ihren Räumen im Stadtteil Bockenheim beraten muttersprachliche Beraterinnen betroffene Frauen, auch zu den medizinischen Möglichkeiten. Eine der Beraterinnen ist Hawo Abdulle. Sie erzählt, dass viele Frauen sich mit der Entscheidung für die Genitalrekonstruktion schwertun: aus kulturellen Gründen oder weil sie die erneuten Schmerzen fürchten.

Der Arzt Dan mon O'Dey lächelt in die Kamera
Der Aachener Arzt Dan mon O'Dey ist auf die Rekonstruktion verstümmelter Genitalien spezialisiert. Bild © hr

Auch die Distanz nach Aachen macht das Ganze kompliziert. "Das ist ja nicht nur ein Termin", erklärt Hawo Abdulle: "Die Frauen müssen immer wieder hinfahren: für die Erstberatung, zum Vorgespräch, für die OP und dann zur Nachsorge.“

Bei Halima Abdullahi, die alleinerziehende Mutter ist, hat es nur geklappt, weil ihre Schwester extra aus Finnland zu Besuch kam, um während ihres Klinikaufenthalts in Aachen eine Woche lang Abdullahis dreijährigen Sohn zu betreuen. Und weil die FIM-Beraterin Hawo Abdulle zur Erstberatung mit nach Aachen fuhr und übersetzte.

Wiesbadener Ärztin lernt OP-Technik

Damit in Zukunft noch mehr Frauen von der Operation profitieren können, baut FIM derzeit zusammen mit der Ärztin Stefanie Adili ein entsprechendes Angebot in Hessen auf. Adili ist eigentlich in einer Praxis für ästhetische und plastische Chirurgie in Wiesbaden angestellt. Doch schon länger arbeitet sie ehrenamtlich mit FIM zusammen, interessiert sich für die medizinische Versorgung von beschnittenen Frauen.

Adili lernt jetzt von Dan mon O'Dey die komplexe Operationstechnik, mit der Form, Funktion und Gefühl der Genitalien wiederhergestellt werden können. Der Aachener Spezialist kommt dafür mehrfach nach Hessen und gibt sein Wissen an Adili weiter. Die beiden haben gemeinsam im Dezember zwei Frauen in einer Klinik in Wiesbaden operiert.

Die Ärztin Stefanie Adili sitzt auf einer Stuhllehne und blickt lächelnd in die Kamera
Die Ärztin Stefanie Adili Bild © hr

Sobald Stefanie Adili das Verfahren beherrscht und alle Formalitäten geklärt sind, können sich Betroffene aus ganz Hessen an FIM wenden. Die Mitarbeiterinnen in Frankfurt beraten interessierte Frauen, kümmern sich um die Organisation rund um die Operation und unterstützen mit Sprach- und Kulturvermittlung bei Untersuchungsterminen. Für diese Arbeit sind sie auf Spenden und öffentliche Förderung angewiesen. Die Operation an sich wird dagegen von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt.

Hoffnung auf Bruch der Tradition

Stefanie Adili hofft, dass sich bald deutlich mehr betroffene Frauen für den Eingriff entscheiden. Für sie geht es dabei auch um Prävention, wie sie schildert: "Ich denke, dass eine Frau, die eine Rekonstruktion macht und spürt, wie sich dadurch ihre Lebensqualität verbessert, nicht ihre eigenen Töchter beschneiden lassen wird."

Auch Halima Abdullahi hat eine Tochter und würde sie niemals dem brutalen Eingriff aussetzen, der ihr selbst so lange das Leben schwer gemacht hat. Trotzdem hat sie Angst um ihre Tochter, denn sie lebt noch in Somalia und ist sechs Jahre alt - ein übliches Alter für die Beschneidung.

Insbesondere ihrer Oma, die auch ihre eigene Beschneidung veranlasst hat, misstraut Halima Abdullahi. Längst hat sie einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt, um ihre Tochter zu sich nach Deutschland zu holen. Doch der Antrag hängt in der Prüfung fest, wie sie berichtet. Halima Abdullahi bleibt nur jeden Tag aufs Neue die Hoffnung, dass es noch nicht zu spät ist.

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Redaktion: Stephan Loichinger

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Quelle: hessenschau.de