Ortsbesuch in Marburger Wohnheim für Ukraine-Flüchtlinge Leben im dauerhaften Provisorium
Direkt nach Beginn des Ukraine-Kriegs wurde in Marburg ein leerstehendes Seniorenheim zur Notunterkunft für über hundert Geflüchtete umfunktioniert. Viele Frauen und Kinder leben hier seit Monaten - so gut es geht. Ein Ortsbesuch.
Das Provisorium hat Schlossblick. Im fünften Stock des ehemaligen Marburger Altenheims St. Jakob lebt Iryna Tereschenko mit ihren beiden Söhnen in einem Ein-Zimmer-Apartment. Dass sie so lange hier bleiben würde - das hätte sie vor rund einem Jahr nicht erwartet.
Im Zimmer stehen ein Einzelbett und ein Hochbett, daneben Kühlschrank, Mikrowelle, Bücherregal. Am winzigen Esstisch findet derzeit das komplette Familienleben statt: Iryna lernt für die Deutschprüfung, der elfjährige Sohn für die Schule, der 18-Jährige für die ukrainische Fern-Uni.
Seniorenheim stand leer
Als vor einem Jahr Russland in die Ukraine einmarschierte, wurde in Marburg nicht lange gezögert: Die Bewohner des Seniorenheims im Stadtteil Richtsberg waren erst kurz vorher in einen Neubau gezogen, der Altbau mit über 100 Apartments stand leer.
Innerhalb kürzester Zeit wurde der achtgeschossige Wohnblock zur Notunterkunft umfunktioniert. Es dauerte nicht lange und das Haus war voll ausgelastet. 120 Menschen zogen ein, hauptsächlich Frauen und Kinder. Viele sind seitdem hiergeblieben, die Zimmer sind kostenlos und der Wohnungsmarkt ist in Marburg so leergefegt wie derzeit überall.
"Wir sind dankbar, dass wir hier so gut versorgt werden"
Alla Voronina kam Anfang März nach einer tagelangen beschwerlichen Anreise über Polen und Berlin im Heim unter. "Mein erwachsener Sohn und meine Mutter sind noch zu Hause", erzählt die 54-Jährige. "Ich bin froh, dass wir hier so schnell und gut versorgt worden sind."
Voronina kennt die Berichte aus den Turnhallen und aus der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung. Sie ist dankbar für ihr eigenes Zimmer, die Waschmaschine, die Sozialarbeiter, sagt sie. "In den ersten Monaten haben wir hier sogar jeden Abend warmes Essen bekommen."
Neue Freundschaften
Trotzdem sei der Anfang schwer gewesen. "Wir konnten ja kein Wort Deutsch, kannten uns nicht aus und hatten auch erst mal gar nichts zu tun hier." Das hat sich inzwischen geändert. Voronina besucht jeden Tag einen Sprachkurs, engagiert sich ehrenamtlich in einer Kirche und jobbt in einer Spielgruppe für ukrainische Kinder. Und: Sie hat neue Freundschaften geschlossen, zum Beispiel mit Natalia Kyivska, die zwei Stockwerke unter ihr wohnt.
Kyivska hat es sich in ihrem anfangs nur spärlich möblierten Apartment inzwischen gemütlich gemacht. Sie zählt auf, woher sie ihre Möbel hat: den Beistelltisch vom Sperrmüll, die Mikrowelle vom Flohmarkt. "Das Sofa habe ich selbst gebaut", erzählt sie und zeigt auf ihr mit Polstern und Decken versehenes Bettgestell - ebenfalls vom Sperrmüll.
"Wir ukrainischen Frauen sind sehr praktisch veranlagt", sagt Voronina. Richtige Küchen gibt es in den Zimmern nicht, dafür Gemeinschaftsküchen auf den Fluren. "Aber damit kommen wir klar."
"Jetzt leben"
Trotz allem, was hinter ihnen liegt – die Frauen strotzen vor Energie. Sie wollen noch besser Deutsch lernen und Arbeit finden, sagen sie. Sie haben sich eingerichtet, auch wenn echtes Angekommensein wohl noch anders aussieht. "Wir müssen positiv bleiben", sagt Alla Voronina. "Jetzt leben", meint Natalia Kyivska.
Doch hin und wieder kommt der Schmerz durch, der eben auch noch da ist: Darüber, was die Frauen auf der Flucht erlebt haben und was immer noch zu Hause passiert. "Ich war letztes Jahr noch einmal zu Besuch in Kiev", erzählt Voronina. "Das war einfach furchtbar." Ständig habe sie die Bomben gehört und sich im Keller verschanzen müssen.
Die jüngsten Bewohner sind in Marburg geboren
Ein Jahr ist lang, besonders im Leben der Kinder, die hier auf Tretrollern durch die Flure kurven und ihre Spielsachen in den Ecken verteilen. Einige der jüngsten Bewohner des Hauses sind sogar erst nach der Flucht ihrer Mütter auf die Welt gekommen - in Marburg also. Ihre Väter in der Ukraine kennen sie bisher vor allem übers Smartphone.
Es ist ein Leben irgendwo dazwischen: dem Trauma von gestern, der Hoffnung von morgen und der Unvermeidbarkeit, dass das Leben nun mal hier und heute weitergeht. Während zu Hause die Bomben fielen, haben die Frauen und Kinder hier im vergangenen Jahr auch immer wieder zusammen gefeiert: Ostern und Weihnachten, zuletzt das erste Mal Fasching in Deutschland. In der gemeinsamen Chatgruppe tauschten sie sich über Superheldenkostüme aus.
Die Heimat in Schutt und Asche
Iryna Tereschenko hat über ihrem kleinen Esstisch inzwischen ein Gemälde aufgehängt. Es zeigt eine Vase Rosen. Sie ist stolz auf das Bild und erzählt: Eine andere Bewohnerin aus dem Haus hat es für sie gemalt. "Ich liebe es, wenn es zu Hause schön ist", sagt sie. Besonders genießt sie deshalb auch den Ausblick vom Balkon aus, bis runter zum Schloss.
Auch ihre eigene Heimatstadt war mal schön, bekannt für den Hafen, die große Kunstsammlung und süße Wassermelonen: Cherson, nach der monatelangen Belagerung der Russen kennt in Deutschland wohl jeder diesen Namen. Die Stadt liegt inzwischen in Schutt und Asche.
Und zurück?
Im vergangenen Jahr sind immer wieder Bewohner ausgezogen und neue dazu kommen. Das Wohnheim ist laut Stadt Marburg durchgängig voll besetzt, man unterstütze die Bewohner bei der Suche von festen Wohnungen, heißt es.
Alla Voronina und Natalia Kyivska sagen: Sie leben gerne hier. Weil sie sich hier gegenseitig haben und auch sonst alles, was sie brauchen. Weil sie sich gut betreut fühlen. Aber vor allem: Weil sie von hier aus ohne viel Aufwand schnell wieder zurückgehen könnten, sobald der Krieg endlich vorbei ist.
"Wir sitzen hier nicht auf gepackten Koffern", sagt Voronina. "Aber wenn Frieden ist, wollen wir wieder nach Hause." Bis dahin bauen sie sich hier ein Leben auf. Das ist zwar ganz anders als alles, was sie sich je hätten vorstellen können, sagen sie. Aber es ist ein Leben - momentan eben im dauerhaften Provisorium.
Sendung: hr4 für Mittelhessen, 27.02.2023, 15.30 Uhr
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