Abschaffung von Paragraf 175 Homosexualität - nicht mehr strafbar heißt nicht automatisch akzeptiert
Vor 30 Jahren endete mit der Streichung des Paragrafen 175 die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen in Deutschland. 30 Jahre später erzählen schwule Hessen aus drei Generationen, warum heute immer noch nicht alles gut ist.
Der Paragraf 175 im Strafgesetzbuch wurde im Deutschen Kaiserreich eingeführt und stellte "widernatürliche Unzucht" zwischen Männern unter Strafe. Das Kaiserreich ging unter, die Weimarer Republik und das Nazi-Regime kamen und gingen - doch der Paragraf 175 StGB blieb. Auch in der Bundesrepublik wurden Homosexuelle und bisexuelle Männer verfolgt. Zirka 45.000 Verurteilungen gab es zwischen 1950 und 1965. Erst 2004 soll der letzte sogenannte 175er aus dem Gefängnis entlassen worden sein.
Am 11. Juni 1994 wurde der Paragraf endgültig abgeschafft. "Endlich, das hat aber lange gedauert", so habe er damals reagiert, erinnert sich Harald Switalla aus Pfungstadt (Darmstadt-Dieburg), heute 74 Jahre alt. "Es war empörend, dass es nicht vorher abgeschafft wurde", sagt sein Ehemann Herbert Horatz, 66 Jahre alt.
"Angst vor unbekanntem Feld"
Horatz hatte damals weniger Angst vor dem Paragrafen 175 und der Strafverfolgung als vor "einem unbekanntem Feld", wie er erzählt. "Als ich erkannte, dass ich ein schwuler Mann bin, kannte ich keine Seele, die so lebte", sagt Horatz heute.
Seit 1990 sind Switalla und Horatz ein Paar. Das war damals schon legal, denn der Paragraf 175 wurde mehrfach reformiert. Seit 1973 war Homosexualität keine Straftat mehr für Männer über 18 Jahren. Die Beziehung von Erwachsenen zu Jungen unter 18 Jahren blieb weiter verboten. Das Schutzalter für heterosexuelle Beziehungen lag hingegen bei 16 Jahren.
In der DDR wurde der umstrittene Paragraf bereits vor der Wende abgeschafft. Und so existierten nach der Wiedervereinigung zwei unterschiedliche Rechtslagen in Deutschland. Während im Osten Homosexualität längst legal war, saßen 1990 immer noch zehn Männer wegen Paragraf 175 im Gefängnis.
"Wir haben dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten viel zu verdanken", sagt Switalla, "sonst weiß ich nicht, ob es 1994 schon so weit gekommen wäre." In jenem Jahr wurde im Bundestag die endgültige Streichung des Paragrafen 175 beschlossen. Schwierig sei es aber weiterhin gewesen, sagt Switalla: "Mit der Abschaffung des Paragrafen hat man ja nicht die Moral in der Gesellschaft verändert."
"Wir lassen uns nicht mehr wegdenken"
Wolfgang Fendt aus Frankfurt hingegen glaubt, dass das Ende der Strafverfolgung dazu geführt habe, dass die Gesellschaft gegenüber Homosexuellen offener geworden sei. "Persönlich glaube ich, dass Gesetze gut dafür sind, gesellschaftliche Stimmungen umzuwandeln." Der 40-Jährige gehört zu einer der ersten Generationen von Homosexuellen, für die der Paragraf 175 keine Rolle mehr spielte.
"Anders als in den 80er und 90er Jahren lassen wir uns nicht mehr wegdenken", sagt Fendt, der sich unter anderem beim CSD-Verein Frankfurt für queere Rechte einsetzt. Auch wenn Schwule in Deutschland heutzutage nicht mehr gesetzlich verfolgt seien, sagt Fendt, "haben wir immer noch keine vollständige rechtliche Gleichstellung". Beispielsweise beim Abstammungsrecht: Dieses sieht bisher keine gemeinsame Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare vor.
Als Benedikt Freitag aus Darmstadt vor 25 Jahren auf die Welt kam, war Homosexualität schon einige Jahre total legal. Mit seinem Coming-out wartete Freitag aus Angst vor Mobbing trotzdem bis nach seinem Abi. "Ich habe mich sehr isoliert in meiner Jugend", sagt er. Das sei so weit gegangen, dass er Angst vor zu engem Kontakt zu Menschen gehabt habe, weil er befürchtet habe, irgendwann über seine Gefühle sprechen zu müssen.
"Schwul" sei bereits im Kindergarten ein Schimpfwort gewesen. "Mit 19 Jahren habe ich mich noch nicht getraut, das Wort schwul auszusprechen", erzählt Freitag. Selbstvertrauen habe erst mithilfe der queeren Jugendgruppe in Darmstadt aufbauen können.
"Vor fünf Jahren konnte man öfter Händchen halten"
Was Freitag und Fendt Sorgen macht, ist die Zunahme von queer-feindlichen Attacken. Diese stiegen im vergangenen Jahr in Hessen um 66 Prozent. "Vor fünf Jahren gab es noch mehr Orte, an denen ich mit einem Mann Händchen halten konnte", sagt der politisch aktive Freitag. Erst dieses Wochenende wurde laut Polizei ein 44-Jähriger in der Frankfurter Innenstadt deswegen bespuckt und bedroht.
Vor allem Männergruppen fallen Fendt als Täter auf - egal welcher Herkunft. "Ich habe vor Nazis genauso Angst wie vor anderen extremen Gruppierungen", sagt Fendt. Rund 90 Prozent der Tatverdächtigen im vergangenen Jahr waren männlich, teilt das BKA auf hr-Anfrage mit.
Wenn Darmstadt 98 ein Heimspiel hat, versuche er nicht mit Bus und Straßenbahn zu fahren, erzählt Freitag: "Wenn besoffene Männergruppen aus dem Bundesliga-Stadion rauskommen und laut im ÖPNV rumgrölen, dann ist das für queere Menschen in aller Regel kein sicherer Raum."
"Viele Menschen gehen dazwischen"
Der wachsende Hass auf Schwule komme auch von den Sozialen Medien, sagt Freitag. Besonders auf Tiktok würden viele queerfeindliche Inhalte Jugendliche erreichen. Ein weiterer Grund: Während der Corona-Epidemie hätten sich viele Menschen radikalisiert, weil demokratiefördernde Arbeit nicht stattgefunden habe, vermutet der Student der Soziologie und Politikwissenschaft.
Positiver betrachtet der Frankfurter Fendt die Entwicklung: "In meiner Auffassung wird die Gesellschaft offener. Da draußen gibt es viele Menschen, die aufmerksamer werden, dazwischen gehen."
Dass ein Ende der Strafverfolgung nicht direkt das Ende der Ablehnung bedeutet, bemerkte das Paar Switalla und Horatz bereits in den 90er Jahren, beispielsweise bei der Suche nach einer gemeinsamen Wohnung. Mit vorgeschobenen Gründen habe man zwei Männern damals keine Wohnung vermieten wollen, erzählen die beiden.
"Wichtig ist, Gesicht zu zeigen"
Vermieter hätten bezweifelt, dass in einer Wohnung mit zwei Männern überhaupt geputzt werde. Die beiden fanden eine Lösung: Sie kauften eine Wohnung in Pfungstadt, in der sie heute noch zusammenleben. Seit 2018 sind sie verheiratet.
"Wichtig für uns Schwule und Lesben ist immer, Gesicht zu zeigen", sagt Switalla, "damit die errungenen Rechte nicht in irgendeiner Form verringert oder gestrichen werden können. Das ist unsere jetzige Aufgabe - und die der Generation nach uns."
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 11.06.2024, 16.45 Uhr
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