Phänomen "Underachievement" Warum Hochbegabte in der Schule scheitern können
Hochbegabte sind Überflieger mit Bestnoten in der Schule - soweit das Klischee. Doch immer wieder scheitern Hochbegabte gerade dort. Eine Mutter aus Lahnau hat ihre Erfahrungen in einem Buch verarbeitet.
Wenn Susanne Burzel auf die vergangenen fast 20 Jahre zurückblickt, dann muss sie erst einmal tief durchatmen, wie sie sagt. "Es war ein ganz schöner Brocken, den wir als Familie bewältigen mussten."
Der "ganz schöne Brocken", das war vor allem der Weg ihres ersten Sohnes durch das Schulsystem. Während er sich zu Hause stundenlang aufs Lego-Bauen konzentrieren konnte, in der Kindergruppe "Young Scientists" aufblühte und sämtliche Ferienspielkurse belegen wollte, bereitete ihm die Schule Probleme: Er konnte sich kaum auf den Unterricht fokussieren oder weigerte sich, Routineaufgaben und Wiederholungen zu machen.
Zwei Jahre Schulverweigerung
In den folgenden Jahren durchlief Susanne Burzels Sohn mehrere psychologische Tests: Es wurden eine hohe Intelligenz und ADHS festgestellt, später eine Depression vermutet. Die Eltern probierten homöopathische Mittel, zwischendurch gaben sie ihrem Sohn Ritalin, was eine Weile funktionierte, wie die Lahnauerin erzählt. Die Noten schwankten weiter je nach Fach und Lehrer, ihr Sohn bekam Förderpläne, die neunte Klasse sollte er schließlich wiederholen, jetzt stand die Diagnose Autismus im Raum.
Doch dann, mit 15 Jahren, konnte ihr Sohn nicht mehr. An einem Morgen nach den Sommerferien saß er auf dem Bett, wollte sich für die Schule fertig machen, aber sein Körper machte nicht mit. In den folgenden zwei Jahren verweigerte er die Schule komplett. "Wir fielen in Schockstarre", erzählt seine Mutter. "Wir wussten überhaupt nicht, an wen wir uns noch wenden konnten."
Nach einem Tipp von einem Förderschullehrer wurde bei dem Sohn schließlich eine Hochbegabung festgestellt, in einem Bereich sogar fast eine Höchstbegabung - und seine Probleme bekamen einen Namen: Underachievement oder erwartungswidrige Minderleistung nennen es Psychologen, wenn die Leistung eines Schülers stark von dem abweicht, was bei seinem Potenzial zu erwarten wäre.
Rund 15 Prozent der Hochbegabten sind Underachiever
"Man spricht davon, wenn bei einem IQ von 130 die Leistung höchstens durchschnittlich oder unterdurchschnittlich ist", erklärt Julia Breuker, Psychologin an der Philipps-Universität in Marburg und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Begabungsdiagnostischen Beratungsstelle (BRAIN). Rund 12 bis 15 Prozent der Hochbegabten sind davon betroffen.
Manche Schülerinnen und Schüler litten gar nicht darunter, weiß Breuker. "Wenn ein Schüler mit einem IQ von 150 einen Zweierschnitt hat, ist das zunächst nichts Schlimmes", sagt sie. Es sei aber wichtig, nach denjenigen zu schauen, denen es in der Schule schlecht gehe oder bei denen zum Beispiel der Abschluss gefährdet sei.
"Kinder kommen nicht als Underachiever auf die Welt"
Ursachen für Underachievement könne es viele geben: familiäre oder soziale Bindungen in der Schule, fehlender Selbstwert, Langeweile, mangelnde Motivation, die Qualität des Unterrichts. Viele Hochbegabte lernten zudem nie oder erst spät das Lernen an sich, weil der Schulstoff ihnen zu lange einfach zufliege, sagt Breuker.
Eltern, deren hochbegabte Kinder Probleme in der Schule haben, wenden sich unter anderem an die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK). "Die Kinder kommen nicht als Underachiever auf die Welt", stellt Edeltraud Chawla klar, die Vorsitzende des DGhK-Regionalvereins Hessen. Viele hochbegabte Kinder freuten sich auf Schule, litten aber schon nach kurzer Zeit unter Langeweile, weil sie teils mit einem Wissensvorsprung kämen, Themen schneller verstünden und weniger Wiederholungen brauchten als ihre Klassenkameraden.
Würden sie nun gezwungen, strikt dieselben Aufgaben zu machen, werde ihre Motivation immer geringer. Viele Mädchen würden dann immer stiller, Jungen würden oft zum Klassenclown.
"Selbstwert ist massiv mit schulischer Leistung gekoppelt"
Das berichtet Susanne Burzel auch von ihrem Sohn. Und: "Die Hausaufgaben waren jahrelang eine Katastrophe", sagt sie. "Er hat darin einfach keinen Sinn gesehen, weil er den Stoff eigentlich konnte."
Bei all seinen Problemen habe ihr Sohn schon früh das Gefühl gehabt, einfach "nicht ins System zu passen", nicht dazuzugehören. Denn: Er habe auch andere Interessen gehabt als seine Klassenkameraden, Fußball etwa sei nicht seins gewesen. Ein gesundes Selbstwertgefühl habe sich nicht aufbauen können.
Der Druck sei schon bei normalbegabten Kindern hoch, daran erinnert die Hochbegabungsforscherin Tanja Gabriele Baudson. In unserer Leistungsgesellschaft sei der Selbstwert schon früh "ganz massiv mit der schulischen Leistung gekoppelt". Dass ihr Sohn ohne Abschluss dastehen könnte, habe die Familie in Panik versetzt, erzählt Susanne Burzel.
Abschluss an Spezialschule in Offenbach
Doch die Familie kämpfte sich durch und fand am Ende gemeinsam mit dem Schul- und Jugendamt eine Lösung für den Sohn. Er wurde an der Oswald-von-Nell-Breuning-Schule in Offenbach aufgenommen, einer Spezialschule für hochbegabte Jugendliche mit Lernschwierigkeiten. Hier machte er seinen Realschulabschluss, "mit Traumnoten", wie Susanne Burzel berichtet.
Inzwischen macht er eine Ausbildung zum Elektroniker, in der er ebenfalls aufgehe, sagt Susanne Burzel. Interviewt werden möchte der heute 19-Jährige nicht, wie er ausrichten lässt. "Er hat damit abgeschlossen", sagt seine Mutter. Ihr sei dieser Schritt nicht leicht gefallen, deswegen habe sie vor rund drei Jahren angefangen, ihre Erfahrungen in einem Buch zu verarbeiten.
"Es hatte etwas Therapeutisches", erklärt sie. "Es tat gut, sich alles nochmal ins Gedächtnis zu rufen, weil man Dinge so schnell wieder vergisst oder abtut mit: So schlimm war es ja gar nicht. Aber wenn ich heute die Seiten lese, muss ich tief durchatmen, weil ich denke, doch, es war schon schlimm."
Hochleistung ist nicht gleich Hochbegabung
Wenn sie sich etwas für das Schulsystem wünschen könnte, dann wäre dies ein anderer Blick auf die Kinder, sagt Susanne Burzel, "ein ganzheitlicher Blick", bei dem es weniger um Defizite und mehr um Stärken gehe. Das Thema Hochbegabung müsse zudem einen größeren Stellenwert in der Lehrerausbildung bekommen. "Für viele ist die Förderung von Hochbegabten immer noch ein Widerspruch in sich." Für Inklusion brauche es Zeit und Raum.
"Lehrerinnen und Lehrer sind dafür ausgebildet, Leistung zu erkennen und nicht das Potenzial von Kindern und Jugendlichen", sagt Julia Breuker von der Uni Marburg. In der Tat wird Hochleistung oft fälschlicherweise mit Hochbegabung gleichgesetzt, was etwa das Marburger Hochbegabtenprojekt, eine der weltweit größten Studien zu dem Thema, gezeigt hat. Besonders häufig fielen Mädchen und Kinder mit Migrationshintergrund durchs Raster, weiß Breuker.
Über den IQ gebe letztendlich nur ein Test Aufschluss, es gebe aber Hinweise, bei denen Lehrkräfte hellhörig werden können, sagt Breuker: "Bringt ein Kind besondere Leistungen außerhalb der Schule? Zeigt es eine schnelle Auffassungsgabe bei neuen Themen, beteiligt sich aber irgendwann nicht mehr? Gibt es plötzliche und deutliche Leistungseinbrüche? Meldet sich ein Schüler kaum, hat aber immer gute Antworten parat, wenn er drangenommen wird?" Bei Problemen brauche es dann individuelle Lösungen.
"Hochbegabte müssen integriert und motiviert werden"
Vor dem Hintergrund ohnehin überlasteter Lehrkräfte könne eine Lösung sein, mehr interessierte Lehrerinnen und Lehrer als Ansprechpartner fortzubilden und eine Art Expertensystem für verschiedene Themen an den Schulen aufzubauen, schlägt die Hochbegabungsforscherin Baudson vor.
"Aus unserer Sicht brauchen Hochbegabte keine Sonderbehandlung im Sinne einer Separierung", ergänzt Edeltraud Chawla von der DGhK. "Man darf sie aber nicht ignorieren, nicht alle gleich machen wollen. Sie müssen sich gehört und gesehen fühlen, müssen zum Beispiel über differenzierte Unterrichtsmaterialien integriert und motiviert werden."
Das sei natürlich mit Arbeit verbunden, aber am Ende profitierten alle, sagt Chawla: "Wenn wir uns als Gesellschaft entwickeln wollen, müssen wir doch unser Potenzial erkennen und es nutzen."