Porträt zum Tag gegen Armut Von der Führungskraft zum Ein-Euro-Job
Mehr als eine Million Menschen in Hessen gilt im Verhältnis zum Rest der Bevölkerung als arm oder armutsgefährdet – fast jeder Sechste. Jasmin Koppe kennt beides: Geld und beruflichen Erfolg. Aber auch ein Leben am Existenzminimum.
Jasmin Koppe liebt Textilien: Ob Baumwolle, Strickwaren oder bunte Borten - an der Nähmaschine in der Textilwerkstatt der Gießener Jugendwerkstatt ist sie ganz in ihrem Element. Zuletzt hat sie hier Lichthäuser produziert: verzierte Textilhäuschen, die bald auf dem Weihnachtsmarkt verkauft werden sollen.
Auch früher schon hat sie mit Textilien gearbeitet, damals allerdings als Führungskraft. Inzwischen ist Koppe langzeitarbeitslos. Derzeit arbeitet sie im Rahmen einer sogenannten Arbeitsgelegenheit, die vom Jobcenter finanziert wird, früher bekannt als "Ein-Euro-Job".
Fast jeder Sechste in Hessen armutsgefährdet
Mehr als eine Million Menschen in Hessen gilt als arm oder armutsgefährdet – fast jeder Sechste. Betroffen sind arbeitslose Menschen wie Koppe, aber auch Alleinerziehende, Rentner oder sogenannte Aufstocker, die also mit ihrer Arbeit so wenig verdienen, dass sie zur Existenzsicherung zusätzlich Sozialleistungen bekommen. Kinder sind besonders häufig von Armut bedroht.
Dass es auch sie mal treffen würde, hätte Jasmin Koppe sich früher niemals vorstellen können, sagt sie. Nach ihrem VWL-Studium in Gießen arbeitete sie jahrelang als Produktionsleiterin in einem ökologischen Textilbetrieb. Ein straffer, stressiger Arbeitsalltag war das – aber auch ein sicheres Gehalt.
Psychische Probleme vor Kündigung
"Da hatte ich zum Teil eine 60- bis 70-Stunden-Woche", erzählt sie heute. Vor rund zwölf Jahren habe sie das dann irgendwann nicht mehr gekonnt. Koppe berichtet: In der Zeit habe sie ihr Coming-out als Transperson gehabt und psychische Probleme bekommen: Depressionen, eine Angststörung – auch Suizidgedanken.
Sie habe Stunden reduzieren wollen. "Um sich mit all dem zu beschäftigen und wieder die Kurve zu kriegen", sagt sie. Aber der Chef sei dagegen gewesen. "Dann musste ich einen Cut machen."
Seit Jahren staatliche Unterstützung
Koppe kündigt also, es folgt ein längerer Klinikaufenthalt. Neue Arbeit findet sie danach keine mehr. Auch sozial ist sie danach lange Zeit isoliert. Die Wohnung kann sie aufgrund der schweren Depression lange Zeit kaum verlassen. "Und alle Freunde und Bekannte, die ich vorher hatte, die waren weg."
Seit Jahren lebt Koppe nun von staatlichen Leistungen: derzeit 563 Euro Bürgergeld plus Miete, für die Teilzeitarbeit in der Werkstatt bekommt sie noch 1,30 Euro pro Stunde dazu.
"Ich muss halt das Geld immer im Kopf behalten"
Offiziell gilt sie in Deutschland damit als arm. Ob sie sich selbst so empfindet? Koppe lacht. "Zumindest lebe ich nicht im Luxus." Mangel sei ja relativ, meint sie. Sie habe ihre Bedürfnisse ihrem Einkommen angepasst. "Von daher empfinde ich das auch nicht so als Mangel."
Reisen, ein Auto haben, spontan Essen gehen – das funktioniere natürlich nicht, wenn man vom Bürgergeld lebt. Größere Anschaffungen wie Möbel seien eine Herausforderung. "Ich muss halt das Geld immer im Kopf behalten." Wie man gut haushaltet, das wisse sie ja glücklicherweise noch aus dem Studium, sagt sie.
Wie wird Armut überhaupt gemessen?
Armut zu messen ist schwierig, das schreibt etwa das Bundesentwicklungsministerium. Jeder empfinde sie anders, heißt es. Auch Hunger, Krankheiten oder Angst seien nur schwer messbar.
Um Armut statistisch zu erfassen, haben sich dennoch verschiedene Definitionen durchgesetzt. Die wohl bekannteste ist die der Weltbank: Danach gelten Menschen als "extrem arm", wenn sie weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben. Schätzungsweise sind das weltweit mehr als 700 Millionen Menschen. Die meisten leben in Afrika südlich der Sahara.
Abseits von wirtschaftlichen Faktoren betonen Hilfsorganisationen, Forschende und Institutionen mittlerweile aber auch verstärkt, dass Armut noch weitere Dimensionen habe, etwa Zugang zu Bildung, Zukunftsperspektiven oder Gefühle von Handlungsunfähigkeit und fehlender Teilhabe. Diese "mehrdimensionale Armut" versucht beispielsweise, der Multidimensional Poverty Index der Vereinten Nationen abzubilden.
Armut in Deutschland: Relative Einkommensarmut
Extreme Armut, wie sie etwa die Weltbank definiert, gibt es in Deutschland zumindest messbar nicht. Dennoch gibt es auch hier Menschen, die in Relation zur restlichen Bevölkerung als "arm" oder "armutsgefährdet" gelten. Dies wird auch als relative Einkommensarmut bezeichnet.
Darin einbezogen wird laut paritätischem Wohlfahrtsverband, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens der Gesamtbevölkerung zur Verfügung hat. Aktuell liegt der Schwellenwert bei 1.247 Euro netto für Alleinlebende. Derzeit betrifft das 16,6 Prozent der Bevölkerung, in Hessen sind es 17,3 Prozent.
Unklare Zukunftsaussicht
Nach über zwölf Jahren Arbeitslosigkeit und mit mittlerweile 60 Jahren gilt Koppe auf dem Arbeitsmarkt inzwischen als schwer vermittelbar. Sie hat bereits mehrere Maßnahmen des Jobcenters hinter sich. Die Arbeitsgelegenheit in der Jugendwerkstatt wurde noch bis Anfang kommenden Jahres bewilligt.
Wie ihre berufliche und finanzielle Zukunft aussehen wird, kann sie derzeit nicht absehen. Sie sagt: Mittlerweile habe sie sich durch Therapie und Antidepressiva wieder weitgehend psychisch stabilisiert. Sie wolle gerne wieder regelmäßig arbeiten, sei aber nur noch wenig belastbar. Die Wohnungstür aufzumachen, das sei bis heute jeden Tag ihre größte Hürde.
Wichtig sei ihr, dass Menschen mit höherem Einkommen keine voreiligen Schlüsse ziehen über Menschen wie sie – sondern lieber mal nachfragen und versuchen, deren Lebensweg nachzuvollziehen. "Ich kenne viele Menschen, die echte Probleme haben", sagt Koppe. Auch sie selbst hätte niemals damit gerechnet, eimal hier in der Nähwerkstatt zu landen.