Versammlungen trotz Corona-Auflagen Protest und Pandemie - wie in Hessen das Demonstrationsrecht verteidigt wurde
Zahlreiche Akteure behaupten heute, während der Pandemie Grundrechte verteidigt zu haben. Dass auch während des Lockdowns demonstriert werden durfte, ist aber das Verdienst von Flüchtlings- und Umweltaktivisten aus Hessen.
Mitten in die unwirkliche Stille des ersten Corona-Lockdowns platzen am 5. April 2020 Bilder von Aufruhr und Gewalt. In den Abendnachrichten sind Polizisten zu sehen, die empörte Menschen wegtragen, beiseite schubsen, teils in den Schwitzkasten nehmen. Bilder und Videos der Auseinandersetzungen fluten die sozialen Netzwerke. Alles spielt sich vor der Kulisse des sonnigen Mainufers ab.
Auslöser des Tumults ist die Auflösung einer Demonstration. Sie hat mit Corona zu tun, richtet sich aber nicht gegen die Maßnahmen der Bundesregierung. Ganz im Gegenteil.
Verbot trotzt Hygienkonzepts
Die Organisatorinnen und Organisatoren von der Geflüchteteninitiative "Seebrücke" wollen auf die Zustände im griechischen Flüchtlingslager Moria aufmerksam machen, wo das Virus fast ungehindert grassiert. Dabei achten sie darauf, Abstandsregeln und Maskenpflicht einzuhalten.
Rote Punkte auf dem Boden markieren die Stellen, an denen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufstellen sollen - jeweils im Abstand von drei Metern. Die Versammlung wurde beim Ordnungsamt angemeldet.
"Doch die Polizei hat dann entschieden, dass ihnen das zu bunt ist", sagt Mitorganisatorin Karin Zennig. Unter Berufung auf die geltenden Corona-Verordnungen von Land und Bund vertreten die Frankfurter Ordnungshüter die Auffassung, dass jedwede Ansammlung von mehr als zwei Personen verboten ist. Die eigentlich Corona-konforme Demo wird aufgelöst.
"Daraufhin hat die Polizei sehr brutal eine Räumung durchgeführt", erinnert sich Zennig, "ironischerweise war es dann die Polizei, die sämtliche Regeln zum Infektionsschutz ignoriert hat."
Demonstrierende und eine Journalistin werden verletzt. Damit beginnt in Deutschland eine Debatte über das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in Zeiten einer globalen Pandemie.
Grundrechte können nicht einfach ausgesetzt werden
Fünf Jahre nach Corona-Alarm und Lockdown nehmen zahlreiche Akteure für sich in Anspruch, seinerzeit Grundrechte gegen einen übergriffigen Staat verteidigt zu haben. Doch dass Maßnahmenkritiker und Impfgegner später auf die Straße gehen konnten, ohne dass die Demos aufgelöst wurden, verdanken sie dem Engagement hessischer Flüchtlingshelfer und Umweltaktivisten.
Denn für Zennig und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter steht bereits zwei Wochen nach Verkündigung des ersten Lockdowns fest: Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht, "das nicht einfach ersatzlos ausgesetzt werden kann".
Beuth verteidigte die Polizei
Doch das sieht man in der Hessischen Staatskanzlei seinerzeit anders. Der damalige hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) verteidigt den Polizeieinsatz. Auch gravierende Einschränkungen der Freiheitsrechte seien verhältnismäßig, um das Gebot des Gesundheitsschutzes zu sichern, soll Beuth seinerzeit im Innenausschuss erklärt haben.
Unterstützung erhält Beuth seinerzeit von den Grünen. "Es ist eben die Aufgabe der Polizei, dafür zu sorgen, dass der Infektionsschutz gewahrt wird", erklärt damals Innenpolitikerin Eva Goldbach. Im April 2020 herrscht in der schwarz-grünen Koalition Einigkeit bei der Abwägung zwischen Grundrechten und Pandemiebekämpfung .
Zennig und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter von der Seebrücke beschließen, juristisch gegen den Polizeieinsatz vorzugehen. Doch nachträglich feststellen zu lassen, ob eine Demonstrationsauflösung rechtswidrig war, ist keine Eilsache. Bis zu einem Urteil können Monate oder Jahre vergehen.
Planvoll nach Karlsruhe
Doch gut 70 Kilometer von Frankfurt entfernt, hat da bereits eine andere Gruppe von Politikaktivisten beschlossen, die Frage nach der Versammlungsfreiheit in Pandemiezeiten höchstrichterlich klären zu lassen. Man sei dabei sehr planvoll vorgegangen, erinnert sich Jörg Bergstedt, Mitgründer und öffentliches Gesicht der Projektwerkstatt Reichskirchen/Saasen (Gießen).
Als das Coronavirus über Deutschland hereinbricht, ist der als Umwelt-Aktivist bekannte Bergstedt eigentlich gerade mit ganz anderen Dingen beschäftigt: seinem Einsatz für eine fahrradgerechte Innenstadt oder den Protesten im Dannenröder Forst.
"Da haben wir sofort überlegt, wie wir unsere politischen Aktivitäten fortsetzen können", sagt Bergstedt. Auch weil ihm und anderen Aktivistinnen der Verdacht gekommen sei, "dass der Staat die Situation ausnutzen könnte", um Projekte ohne größeren Widerstand durchzudrücken.
Eilverfahren durch die Instanzen
Bergstedt ist kein Verschwörungtheoretiker. Schon gar kein Corona-Leugner. Eine grundsätzliche Skepsis gegenüber staatlichen Grundrechtseingriffen kennzeichnet jedoch sein politisches Leben. Deshalb beschließen er und einige weitere Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Umfeld der Projektwerkstatt, den Gang nach Karlsruhe zu gehen - und zwar im Eiltempo.
Ende März melden sie eine Demonstration unter dem Motto "Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen" für den 1. April in der Gießener Innenstadt an. "Testweise", wie Bergstedt erklärt. Denn alle gehen davon aus, dass sie vom Ordnungsamt untersagt wird. Und tatsächlich erfolgt das Verbot unter Berufung auf den Infektionsschutz prompt.
Damit haben die Demo-Anmelder um Jörg Bergstedt nun einen Informationsvorsprung. Denn nun wissen sie, auf welche Punkte der Corona-Verordnungen sich die Behörde beruft. Darauf können sie ihre juristische Gegenargumentation aufbauen.
Kurz darauf melden sie weitere Demonstrationen für die Zeit zwischen dem 14. und 17. April an. Auch diese werden untersagt - mit einer fast wortgleichen Begründung wie bei der "Test-Anmeldung" am 1. April. Die Klage dagegen ist bereits vorbereitet und hat noch genug Zeit, die Instanzen zu durchlaufen. Im Eilverfahren. Bis nach Karlsruhe.
Verfassungsgericht kippt Demo-Verbote
Die Strategie geht auf. Am 15. April 2020 erlässt das Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung zugunsten der Projektwerkstatt. Die Karlsruher Richter halten fest, dass die hessische Corona-Verordnung kein generelles Verbot von Versammlungen von mehr als zwei Personen unter freiem Himmel beinhaltet.
Darüber hinaus müssten die Ordnungsbehörden unabhängig vom Inhalt der jeweiligen Landesverordnungen "unter hinreichender Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls" entscheiden.
Sprich: Nicht nur in Hessen darf grundsätzlich auch im Lockdown demonstriert werden. Verbote bedürfen einer sehr überzeugenden Begründung.
Versammlungsfreiheit gilt für alle
"Das lustige ist ja: Für uns selbst und unsere Aktion war das gar nicht so relevant", sagt Jörg Bergstedt fünf Jahre später, "aber wir haben festgestellt, dass wir vielen Leuten einen riesen Gefallen getan haben." Dazu zählen etwa Initiativen gegen Rechts oder Umweltschutz-Projekte. Sie alle können auch während der Pandemie weiter demonstrieren.
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Und auch die zahlreichen Demonstrationen aus dem sogenannten Querdenker-Spektrum wären ohne das Engagement der Seebrücke und der Projektwerkstatt Saasen so nicht denkbar gewesen. "Einmal gab es so eine Demo auch bei uns hier", erinnert sich Bergstedt, "da wurde mir eine Zeitung in die Hand gedrückt, in der die behaupteten, sie hätten das Urteil in Karlsruhe erzwungen. Ich habe dann gefragt: Was würden sie sagen, wenn jetzt vor ihnen diejenigen stehen würden, die wirklich geklagt haben?"
Die Flüchtlingsinitiative Seebrücke muss derweil mehr als anderthalb Jahre warten, bis ihre Klage beschieden wird. Ende November 2021 entscheidet das Frankfurter Verwaltungsgericht, dass die Auflösung der Demonstration durch die Polizei rechtswidrig war.