Kritik an Behörden und Innenminister Beuth Rechtswidrige Abschiebung von fünffachem Familienvater verhindert
Per Eilentscheidung hat das Verwaltungsgericht Kassel die Abschiebung eines Kurden aus dem nordhessischen Naumburg verhindert. Die Ausländerbehörde habe europäisches Recht missachtet, urteilte das Gericht. Kein Einzelfall, sagt der Anwalt des Mannes.
Seit vergangenem Freitag saß der fünffache Familienvater Muhiddin Fidan aus Naumburg (Kreis Kassel) im Abschiebegefängnis in Darmstadt. Jeden Moment musste er damit rechnen, dass er nach 27 Jahren in Deutschland mit einer Chartermaschine in die Türkei ausgeflogen wird. Dann am Dienstagabend die Erleichterung.
Das Verwaltungsgericht Kassel beschloss in einem Eilverfahren, dass die Abschiebungsandrohung "offensichtlich rechtswidrig" war. Sie missachte europäisches Recht. Das Gericht folgte der Argumentation von Fidans Rechtsanwalt, wonach die Abschiebung gegen eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 15. Februar dieses Jahres verstoße, wonach vor jeder Rückführung Kindeswohl, familiäre Bindung und Gesundheitszustand zu prüfen seien.
Genau diese Prüfung sei in dem Fall von Fidan nicht geschehen, begründete das Verwaltungsgericht. Der 40-Jährige kehrte noch am Abend heim zu seiner Frau und seinen fünf minderjährigen Kindern in Naumburg.
Vorwurf: Fidan stehe der verbotenen PKK nahe
Fidan ist seit 18 Jahren mit seiner Ehefrau Gülcan verheiratet, die wie die fünf Kinder die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Er kam als Kind mit 13 Jahren nach Deutschland. Seine Eltern flohen aus der Türkei, wo sie nach seinen Angaben als Kurden verfolgt wurden.
Damals seien Bekannte der Familie in der Türkei ermordet worden, sagt Fidan. Seitdem habe er die Türkei nie wieder besucht. Seit acht Jahren besitzt Fidan keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis mehr, entsprechend durfte er auch nicht mehr arbeiten.
Grund für die geplante Abschiebung ist der Vorwurf, Fidan stehe der kurdischen Arbeiterpartei PKK nahe. Die Organisation gilt in der Europäischen Union als terroristische Vereinigung und ist in Deutschland verboten. Fidan bestreitet eine Nähe zur PKK. Er sei nur in einem kurdischen Kulturverein in Kassel aktiv, sagt er.
Anwalt: Behörden müssen EU-rechtskonform handeln
Er habe noch am Freitag, als er festgenommen wurde, gegenüber dem Richter beteuert: "Ich habe niemandem weh getan. Ich habe nie Gesetze mit den Füßen getreten. Alles, was ich gemacht habe, war legal." So berichtet Fidan es dem hr.
Für seinen Frankfurter Anwalt Markus Künzel ist der Fall seines Mandanten kein Einzelfall. Immer wieder würden die Ausländerbehörden bei Abschiebeandrohungen geltendes Recht nicht berücksichtigen, sagt er.
Durch die EuGH-Entscheidung könnten sie sich aber "nicht mehr auf Unkenntnis berufen", sagt Künzel. Und deswegen müsse auch der oberste politische Chef der Ausländerbehörden in Hessen handeln. "Innenminister Peter Beuth muss seine Behörden anweisen, EU-rechtskonform zu arbeiten", fordert der Anwalt von dem CDU-Politiker.
Ehefrau: Jahrelang unsichtbare Schlinge um den Hals
Muhiddin Fidan war am Mittwoch wieder in Kassel in seinem kurdischen Kulturverein. Er hoffe, dass er nun endlich eine Aufenthaltserlaubnis erhalte, sagte er. Die finanziellen Probleme, weil er nicht mehr arbeiten durfte, und die ständige Sorge, abgeschoben zu werden, hätten ihm sehr zugesetzt. Nun wolle mit seiner Familie "in Frieden leben".
Diese war noch Anfang der Woche in großer Sorge, dass Fidan nach seiner Abschiebung in der Türkei sofort in Haft kommen könne und womöglich gefoltert werde. Anwalt Künzel hält die Sorgen für berechtigt: Kurden, die in die Türkei abgeschoben werden, würden häufig vor Ort von der türkischen Polizei in Empfang genommen. "Das weiß auch jeder, auch die deutsche Bundesregierung", sagt der Anwalt.
"Ich hatte all die Jahre eine unsichtbare Schlinge um den Hals, die enger wurde, das war kein Leben", sagt Fidans Ehefrau Gülcan. Sie hoffe, dass sich in Deutschland etwas ändert: "Da draußen sind viele Menschen, die keine Unterstützung von Anwälten, Übersetzern oder Behörden haben und die unschuldig im Abschiebegefängnis sitzen", sagt sie.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 05.07.2023, 19.30 Uhr
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