Samenspender mit dutzenden Kindern Hab' ich Geschwister - und wenn ja, wie viele?
Kim aus Mittelhessen hat 27 Geschwister. Mindestens. Ein Kinderwunscharzt in Bad Nauheim nutzte jahrelang das Sperma desselben Spenders. Die 36-Jährige fühlt sich "wie ein Massenprodukt" - und will sich vor Gericht Gewissheit erstreiten.
Die Frage, ob sie Geschwister hat, ist für Kim* nicht so einfach zu beantworten. Wenn sie keine Lust auf lange Gespräche hat, sagt sie nur: "Eine Schwester."
Manchmal antwortet sie aber: "Gerade sind es 27 Brüder und Schwestern. Es könnten aber auch 300 sein oder 400."
Die genaue Anzahl ihrer Geschwister kennt Kim nicht. Ein Kinderwunscharzt in Bad Nauheim (Wetterau) nutzte jahrelang die Samenspenden desselben Mannes - des genetischen Vaters von Kim.
Die 36-Jährige erzählt: Etwa zwei Drittel ihrer Halbgeschwister seien wie sie in Mittelhessen aufgewachsen. Sie gingen teils in denselben Sportverein oder wurden einander auf der Dating-Plattform Tinder vorgeschlagen. Ihre Sorge: unwissentlicher Inzest.
Ein Familiengeheimnis wird enthüllt
Es ist der Tag vor Weihnachten vor zehn Jahren. Kims Mutter hat die Familie zusammengerufen, es gibt etwas zu besprechen. Aber noch bevor das Gespräch beginnt, verlässt der Vater den Raum. Dann erzählt die Mutter den beiden Schwestern von ihrem genetischen Vater, einem Samenspender.
Die erste Reaktion von Kim und ihrer Schwester ist, darüber Witze zu machen, es fühlt sich absurd an. Dann trifft sie die Realität. Die Angst ihres Vaters, der sie aufgezogen hat, davor, von den Töchtern abgelehnt zu werden, ist schrecklich für Kim mitanzusehen. Für sie ist klar: "Mein Vater ist immer mein Vater, das stand nie zur Debatte."
Lange Zeit kann sie es selbst kaum glauben, nicht sein genetisches Kind zu sein. Für Kim fühlt es sich plötzlich komisch an, Kindheitsfotos anzuschauen. Nach dem Schock stellt sich nach und nach eine Art Erleichterung ein, wie sie erzählt: "Ich habe früher immer das Gefühl gehabt, so sein zu müssen wie mein Vater. Das Wissen über meine Herkunft hat mir die Freiheit gegeben, mehr ich selbst zu sein."
Auch für die Familie sei es eine Erleichterung gewesen. "Das war ein Geheimnis, das auch meine Eltern belastet hat. Man kann einander nicht aufrichtig gern haben, ohne aufrichtig zueinander zu sein", findet Kim. Ohne diese Lüge habe sich die Beziehung verbessert - gleichzeitig habe sie der Gedanke, so lange angelogen worden zu sein, sehr beschäftigt.
Die Suche nach Antworten
Lange Zeit will sich Kim aus Rücksicht auf ihren Vater nicht weiter mit der Frage nach ihrem genetischen Erzeuger auseinandersetzen. Eines Tages wird der Drang nach Antworten aber zu groß. Sie kontaktiert den Kinderwunscharzt ihrer Eltern in Bad Nauheim. Dieser sagt, er wisse nicht, welcher Samenspender ihr Vater sei, es kämen mehrere in Frage.
Sie verfasst mehrere Briefe, frankiert sie und gibt sie dem Arzt zur Weitergabe an die in Frage kommenden Männer. Ein Jahr lang passiert nichts, bis sie dem Arzt mit einer Klage droht.
Einen Monat später ruft jemand mit einer unbekannten Nummer an. Es ist ihr genetischer Vater. Kim ist völlig aufgeregt, aber macht schließlich einen Vaterschaftstest, um Gewissheit zu bekommen. Nach fast zwei Monaten Wartezeit steht fest: Er ist es, und er wohnt ebenfalls in Mittelhessen.
Sie treffen sich, gehen spazieren und essen Kuchen. Plötzlich weiß Kim, von wem sie ihre Augen und Leberflecken hat. "Es hat mir sehr viel bedeutet", sagt die 36-Jährige: "Ich habe keinen neuen Vater gesucht, aber einen Teil in mir, den ich nicht kannte. Dieser Teil von mir, der vorher so geschwirrt ist, hat Ruhe gefunden."
Geschwister-Begegnungen auf Tinder und im Sportverein
Einige Monate nach dem Treffen mit ihrem genetischen Vater hat sie eine Nachricht in ihrem Postfach. Jemand hat sie über eine Ahnenforschungswebsite gefunden, auf der sie sich vor geraumer Zeit angemeldet hat. Es ist eine Halbschwester, ihr Vater ist derselbe Samenspender.
Als Kim und sie sich treffen, fallen ihnen sofort Ähnlichkeiten auf. "Es war krass. Ich hatte das Gefühl, ich schaue mir selber ins Gesicht", erzählt Kim.
Es bleibt nicht bei der einen Schwester. Über die kommenden Jahre erfährt Kim von weiteren 25 Halbgeschwistern. Sie sind alle zwischen Anfang der 1980er und 2000er Jahre geboren, viele von ihnen beobachten gerne Vögel und sehen sich ähnlich. Sie gründen eine Whatsapp-Gruppe, die "Gene-Gang".
Da viele der Geschwister in derselben Gegend in Hessen aufwuchsen, kreuzten sich ihre Wege - unwissentlich - bereits in der Kindheit. Als eine weitere Halbschwester auftaucht, erkennt Kims Schwester sie auf einem Foto wieder: Die beiden haben gemeinsam Handball gespielt.
"Ich habe mir gedacht: Das kann doch nicht wahr sein. Ich war damals acht oder neun, ich war im Tor, sie war im Tor. Sie war wie ein Vorbild, und ich fand sie meganett. Und ich wusste damals einfach nicht, dass das meine Halbschwester war", erzählt sie.
Kim sagt, sie sei mit dem Schulbus am Haus einer Halbschwester vorbeigefahren. Sie seien teilweise im gleichen Freundes- und Bekanntenkreis aufgewachsen. "Es fühlt sich an, als hätte der Arzt uns wie Schachfiguren herumgerückt", sagt Kim.
Das Ziel der Klage
Ob die Mittelhessin je wissen wird, wie viele Geschwister sie hat, ist unsicher. Ihre Hoffnung ist, dass das Wissen über eine genaue Zahl ihr eine gewisse Ruhe geben könnte. "Die meisten Menschen wissen, wie viele Geschwister sie haben. Ich verstehe nicht, warum ich das nicht wissen darf."
Der Arzt sagt es ihr nicht, deshalb will Kim diese Information vor Gericht einklagen, gemeinsam mit Rechtsanwältin Helga Müller, die seit 30 Jahren Expertin für Fälle zu künstlicher Fortpflanzung und Familienrecht ist.
Kim geht es dabei nicht mal um Namen, sondern nur um die Anzahl. "Ein Mensch, der weiß, mit wem er verbunden ist, hat eine größere Chance, ein gesundes sozialpsychologisches Leben zu führen", begründet Helga Müller die Klage. Dazu gehöre auch die Kenntnis, wie groß die Verwandtschaft sei. Ableiten könne man diesen Anspruch aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht in Verbindung mit der Menschenwürde.
Präzedenzfall für Spenderkinder?
In erster Instanz wurde Kims Klage abgewiesen. In der Begründung heißt es: Auch wenn das Gericht das Leid der Klagenden anerkenne, liege es in der Zuständigkeit des Gesetzgebers, die Rechte von sogenannten Spenderkindern weiter auszugestalten.
Kims Fall landet jetzt vor dem Oberlandesgericht Frankfurt und könnte zum Präzedenzfall werden. Bisher ist in Deutschland rechtlich nicht geklärt, ob Spenderkinder ein Recht darauf haben zu erfahren, wie viele Halbgeschwister sie haben.
Samenspenderregeln in Deutschland
Der Fall mit den 28 Geschwistern aus Mittelhessen wirft die Frage auf: Warum gibt es in Deutschland keine Obergrenze für den Einsatz von Sperma von einem Spender? So liegt in Großbritannien etwa die Obergrenze bei zehn Familien. Auch in den Niederlanden, Neuseeland und Österreich gibt es eine gesetzliche Begrenzung.
Eine solche würde der Verein Spenderkinder auch in Deutschland begrüßen. "Wir setzen uns dafür ein, eine Obergrenze von sechs Familien einzuführen, in denen Kinder aufwachsen, die aus dem Samen eines Spenders entstanden sind", sagt Vereinssprecherin Anne Meier-Credner. Der Verein vertritt die Interessen von durch Samenspenden gezeugten Kindern.
Bisher gibt es lediglich eine unverbindliche Empfehlung des Arbeitskreises Donogene Insemination. Die Vereinigung von Ärztinnen, Ärzten, psychosozialen Beratungsfachkräften, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern rät seit 2006 dazu, nicht mehr als 15 Kinder aus dem Samen eines Spenders zu zeugen.
Wunsch nach besserer gesetzlicher Regelung
"Die meisten Kinderwunschmedizinerinnen und -mediziner halten sich an diese Empfehlung", berichtet Aysen Bilgicyildirim vom Kinderwunschzentrum MVZ in Darmstadt. Dort arbeite man nur mit ausgewählten und deutschlandweit agierenden Samenbanken zusammen, die sich selbst zu einer Obergrenze verpflichtet haben. Trotzdem wünscht auch die Ärztin sich eine bessere gesetzliche Regelung.
Trotz selbst auferlegter Obergrenze gibt es keinen Austausch von Informationen zwischen den Samenbanken - ein Spender könnte theoretisch also zu mehreren Samenbanken gehen. Selbst wenn sich jede Samenbank an die Empfehlung hielte, könnten so mehr als 15 Kinder vom selben Spender abstammen.
Kim steht Samenbanken und deren Kommerzialisierung generell sehr kritisch gegenüber. Auch verneine der Begriff "Spender" ihrer Meinung nach die Beziehung, in der der genetische Vater zum Kind stehe, sagt sie: “Ich will, dass man uns ernst nimmt und auch diese Geschwisterbeziehungen ernst nimmt." Die Konstellation von Familien, die durch Reproduktionsmedizin entstehen, sei eine besondere, und das müsse man beachten.
Manche Geschwister kannten ihre Herkunft nicht
Für Kim ist es beunruhigend, nicht zu wissen, wie viele Geschwister sie hat. "Wenn man eine Schwester oder einen Bruder auf der Straße treffen würde, würde man ja nicht sagen: Schönen Tag, war nett, dich kennenzulernen. Das hat eine Bedeutung", findet sie. Je später Geschwister zu ihrer Gruppe dazukämen, desto schwieriger sei es. Mittlerweile seien es so viele, dass sie mit einigen noch nie richtig Kontakt gehabt habe, erzählt Kim. Mit anderen sei sie eng verbunden.
Für andere sei es auch eine traumatische Erfahrung gewesen herauszufinden, dass sie ein Spenderkind seien, hat Kim erfahren: "Deren Eltern haben es ihnen nie gesagt. Die haben aus Interesse einen Gentest gemacht und darüber herausgefunden, dass sie durch Samenverkauf entstanden sind."
"Manchmal fühle ich mich wie ein Massenprodukt"
"Manchmal fühle ich mich wie so ein Massenprodukt, als ob der Arzt irgendwie eine Zucht betrieben hätte", sagt Kim, "so, als ob es gar nicht zählen würde, wie sich das anfühlt." Sie hinterfragt die Motivation ihres genetischen Vaters, so viele Samenspenden abgegeben zu haben.
Auf hr-Anfragen reagiert weder der Samenspender noch der behandelnde Arzt. Stattdessen landet ein Anwaltsschreiben im Postfach des hr-Intendanten: Der Samenspender fühle sich belästigt von dem Gesprächswunsch der Reporter.
Kim wiederum muss weiter jeden Tag damit rechnen, dass sich neue Geschwister bei ihr melden. Sie wünscht sich, dass Eltern ihre Kinder aufklären, wenn diese durch eine Samenspende entstanden sind. Nicht nur im Sinne der familiären Bindung, sondern auch für die Kinder selbst.
*Um die Privatsphäre der Familien zu schützen, sind die Namen der Personen in diesem Artikel geändert. Der Redaktion sind sie bekannt.
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