Schutz vor Gewalt Warum die Frauenhäuser in Hessen überlastet sind
Viel Bedarf, wenig Platz: Die Frauenhäuser in Hessen zählen zu denen mit der bundesweit größten Auslastung. Die Gründe sind vielschichtig – und die Folgen für gewaltbetroffene Frauen und Kinder gravierend.
Über drei Jahre lang hat Jasna Ilić (Name von der Redaktion geändert) die Gewalt ihres Ehemanns ertragen. Gegen sich selbst, aber auch gegen ihre Tochter aus einer früheren Beziehung. Bis die Situation an einem Abend in der Weihnachtszeit 2021 wieder einmal eskaliert.
"Er hat meine ältere Tochter auf den Boden gedrückt und der jüngeren Tochter hat er gesagt: Komm, schlag sie. Da bin ich aufgestanden und habe gesagt: Stopp. Ich kann das nicht mehr, ich kann so nicht mehr leben. Dann hat er mich am Hals genommen und gesagt, dass er mich töten wird. Meine beiden Mädels waren dabei und haben alles gehört und gesehen."
"Ich kann so nicht mehr leben"
Jasna Ilić sagt, in diesem Moment sei ihr endgültig klar geworden, dass sie nicht mehr bei ihrem Mann bleiben könne. Ihr gelingt es an diesem Abend, die ältere Tochter zu einer Nachbarin zu schicken, damit diese die Polizei ruft. Ilić sendet noch eine Nachricht an die Nachbarin, an ihre Mutter und an eine Bekannte. "Hilfe, bitte ruft die Polizei."
Als die Polizei kommt, wird Ilićs Ehemann verboten, sich dem Haus, der Schule der Tochter und Ilićs Arbeitsstelle auf mehr als 400 Meter zu nähern. Doch die Angst bleibt.
"Ich konnte nicht schlafen, ich habe immer aus dem Fenster geschaut, ob jemand kommt. Ich fühlte mich nicht sicher in dieser Wohnung."
Drei Tage warten auf einen freien Platz im Frauenhaus
Schließlich ruft sie das Frauenhaus in ihrer Nachbarstadt an und bittet darum, direkt abgeholt zu werden. Am Mittwoch könne sie kommen, heißt es, dann werde ein Platz frei. Bis Mittwoch sind es zu diesem Zeitpunkt noch drei Tage.
"Ich habe keine Worte dafür. Das war kein richtiges Leben zwischen Sonntag und Mittwoch. Ich war ständig in Sorge, dass er kommt, und habe gedacht, was mache ich dann?"
Als am Mittwoch ein kleiner Bus vom Frauenhaus Ilić und ihre beiden Töchter abholt, sei das der glücklichste Tag in ihrem Leben in Deutschland gewesen, sagt sie.
Hessische Frauenhäuser fast immer voll belegt
Der Fall von Jasna Ilić zeigt, warum es so dringend notwendig ist, dass in Notfällen freie Plätze in Frauenhäusern vorhanden sind. Doch die 31 hessischen Frauenhäuser mit ihren rund 750 Plätzen sind fast immer nahezu voll belegt.
Eine Datenauswertung des Recherchezentrums Correctiv zeigte, dass die Frauenhäuser in Hessen im Jahr 2022 im Schnitt zu 90 Prozent belegt waren, genauso hoch war der Wert im Bundesvergleich nur noch in zwei weiteren Ländern.
Kassel: 140 Abweisungen in einem Jahr
Auf einer online abrufbaren Karte ist einsehbar, welches Frauenhaus gerade freie Kapazitäten hat. Das jeweilige Haus ist dann grün makiert. "Wenn wir mal grün schalten, können wir eigentlich neben dem Telefonhörer warten und direkt wieder rot schalten", sagt etwa eine Mitarbeiterin aus einem Frauenhaus in Bad Hersfeld.
Mitarbeiterinnen anderer autonomer Frauenhäuser bestätigen dies. Allein beim Frauenhaus in Kassel habe man im vergangenen Jahr 140 Frauen abweisen oder an ein anderes Haus verweisen müssen, weil schlicht kein Platz frei war.
Land Hessen hat Mittel erhöht
Tut das Land Hessen also nicht genug für die Frauenhäuser? Das Sozialministerium verweist auf Anfrage auf die kontinuierlich aufgestockten Mittel des Landes, die den Frauenhäusern über zahlreiche Förderprogramme zugute kommen. Allein über ein Programm zur Bewältigung von zusätzlichen Kosten in der Pandemie seien mehr als 2,7 Millionen Euro bewilligt und ausgezahlt worden.
Dass das Land viel Geld in den Schutz von Frauen investiert, war nicht immer so. Durch eine Kürzung der Mittel 2003 musste das Frauenhaus im Vogelsbergkreis schließen, dort gibt es bis heute kein einziges Frauenhaus mehr. Wie eine Sprecherin auf Anfrage bestätigt, gibt es zwar wieder Pläne für ein Frauenhaus im Landkreis. Genaueres will sie aber noch nicht mitteilen.
Abruf von Bundesmitteln teils schwierig
In anderen Städten gibt es teilweise schon konkretere Neubau-Pläne. Über das Bundesinvestitionsprogramm "Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen" seien inzwischen vier Anträge mit einem Gesamtvolumen von rund 7,7 Millionen Euro bewilligt worden, teilte das Sozialministerium in Wiesbaden mit.
Ein großer Teil des Geldes, mehr als 5,5 Millionen Euro, soll im kommenden Jahr für den Neubau eines barrierefreien Frauenhauses in Kassel eingesetzt werden.
Dass das Geld tatsächlich kommt, sei aufgrund der Genehmigungsverfahren "eine lange Zitterpartie" gewesen, sagt Irmes Schwager, Mitarbeiterin im autonomen Frauenhauses in Kassel. Dabei sei der Neubau mit geplanten zusätzlichen 14 barrierefreien Plätzen "nur ein Tropfen auf dem heißen Stein", bei rund 600 fehlenden Plätzen in Hessen insgesamt, so Schwager.
Hanau: Neubauprojekt gescheitert
Auch im Landkreis Darmstadt-Dieburg soll ein zweites Frauenhaus entstehen, ein entsprechender Antrag wurde im Mai 2022 bewilligt. In Hanau hingegen liegen die Pläne für den Neubau eines zweiten Frauenhauses derzeit auf Eis, wie Andrea Laus vom Verein Frauen helfen Frauen Hanau berichtet.
Der kleine Trägerverein des autonomen Hauses hätte einen Neubau nicht alleine stemmen können, deshalb sollte eine stadtnahe Baugesellschaft das Projekt durchführen. Doch wegen der fehlenden Gemeinnützigkeit der Baugesellschaft sei der Förderantrag an den Vorgaben des Bundes schließlich gescheitert, sagt Laus.
Dazu kommt der Personalmangel
Doch selbst dort, wo es Frauenhäuser gibt, die sogar freie Betten haben, bedeutet dies nicht immer, dass das Haus aufnahmefähig ist. Manchmal fehle das Personal, um neue Frauen aufnehmen zu können, sagen mehrere Frauenhaus-Mitarbeiterinnen unterschiedlicher Standorte.
Nicht nur das Geld sei dabei ein Problem, sondern – wie in so vielen Bereichen – auch der Fachkräftemangel. Eine Stelle, die 14 Monate lang unbesetzt war, habe man in Hanau kürzlich neu besetzen können, berichtet Andrea Laus. Eine weitere Stelle sei noch offen. "Weil wir einfach keine geeignete Frau finden."
Gefestigt im Frauenhaus – und dann?
Das Sozialministerium nennt einen weiteren Grund als Ursache für die hohe Auslastung der hessischen Frauenhäuser: "Der lange Aufenthalt im Frauenhaus von stabilisierten Frauen, die aufgrund von fehlendem und bezahlbarem Wohnraum nicht ausziehen können."
Dieses Problem bestätigt Christa Wellershaus aus dem autonomen Frauenhaus in Frankfurt. Eigentlich sei das Haus dafür ausgerichtet, auch Frauen mit vier oder fünf Kindern aufnehmen zu können. "Wenn wir solche Anfragen am Telefon haben, zucken wir dennoch zusammen", sagt sie. "Die Familie muss dann ja zwei Jahre warten, bis sie eine Wohnung gefunden hat."
Anspruch auf geförderte Wohnung erst nach einem Jahr
Wer sich beispielsweise in Frankfurt für eine geförderte Wohnung bewerben will, muss seit mindestens einem Jahr in der Stadt gemeldet sein. "Das bedeutet in vielen Fällen dann schon per se ein Jahr Frauenhausaufenthalt", sagt Wellershaus.
Entweder, weil es in der Heimatregion keine freien Plätze gibt – oder, weil die Frauen sich dort nicht sicher sein können, ziehen Frauen jedoch häufig aus weit entfernten Städten in ein Frauenhaus in einer anderen Stadt.
Auch Jasna Ilić entschied nach einem kurzen Aufenthalt im Frauenhaus in der Nachbarstadt ihres damaligen Wohnortes, die Stadt noch einmal zu wechseln, da sie sich nicht sicher vor ihrem Mann fühlte. So kam sie schließlich nach Frankfurt. Über ein Jahr ist sie nun hier, inzwischen steht ihr auch eine geförderte Wohnung in Aussicht.
Vater hat über Umgangsrecht Wohnort herausgefunden
Allerdings wird sie künftig auch ihrem Ex-Mann wieder begegnen müssen. Trotz der Gewalt gegen seine Frau und die ältere Tochter ist dem Vater das Umgangsrecht zur gemeinsamen, mittlerweile vier Jahre alten Tochter nicht entzogen worden.
Momentan bringt Jasna Ilić ihre Tochter einmal wöchentlich zu einer Stelle in der Stadt, die den Umgang mit dem Vater betreut. Der Mann wolle nun auch nach Frankfurt ziehen, habe sie erfahren.
"Ich weiß, dass ich mich irgendwann wieder alleine mit ihm treffen muss, um ihm meine Tochter zu übergeben", sagt Ilić. Doch dann werde sie stark bleiben und keinen weiteren Kontakt zulassen, sagt sie. "Im Frauenhaus habe ich gelernt, wie stark ich sein kann."
Sendung: hr-iNFO, 03.04.2023, 7.00 Uhr
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