Sexuelle Übergriffe in der Therapie Wenn der Psychotherapeut zum Täter wird
Zwei Frauen erleben sexuelle Übergriffe durch denselben Psychotherapeuten. Sie versuchen, sich zu wehren - aber er darf jahrelang weiter therapieren. Auch 20 Jahre später leiden die Frauen noch unter den Taten. Der Fall zeigt, welche Folgen es hat, wenn Therapeuten zu Tätern werden.
Triggerwarnung: In diesem Beitrag werden sexualisierte Gewalthandlungen und die Folgen für Betroffene beschrieben, die belastend sein können.
Ende der weiteren InformationenMenschen sind besonders verletzlich, wenn sie sich Hilfe bei einem Therapeuten suchen. Sie zeigen ihr Innerstes, sie haben Leidensdruck, sie suchen jemanden, der ihnen einen Ausweg zeigt.
Deswegen gelten für Psychotherapeuten strenge Regeln, die in der Berufsordnung festgelegt sind: Keine Anmachen, keine Berührungen, keine Beziehungen, keine privaten Treffen und kein Sex mit Patientinnen oder Patienten, auch nicht einvernehmlich.
Sexuelle Übergriffe in der Praxis
Was passiert, wenn ein Therapeut diese Regeln bricht und sogar übergriffig wird, zeigt der Fall von Dunya und Claudia. Ihre Namen sind der Redaktion bekannt, wurden in diesem Text aber zu ihrem Schutz geändert. Dunya und Claudia leben in Nordhessen, waren bei demselben Psychotherapeuten - und sie sagen beide, dass sie sexuelle Übergriffe in der Therapie erlebt haben. Sie wussten voneinander, trafen sich aber das erste Mal rund 20 Jahre nach den Vorfällen, Ende vergangenen Jahres.
Als Dunya therapeutische Hilfe suchte, war sie gerade 18 Jahre alt. Der Tod ihres Vaters habe sie in eine Krise gestürzt, sagt sie. Dunya hatte zu dieser Zeit Unterstützung von der Familienhilfe, sie wollte von zuhause ausziehen. Ihre Familie habe einen türkisch-kurdischen Hintergrund, sei patriarchal geprägt gewesen, erzählt Dunya. Sie habe zuhause Gewalt erlebt und Hilfe bei einem Psychotherapeuten gesucht. Damals sei sie ein schüchternes Mädchen gewesen, sagt Dunya, und habe nicht gewusst, wie man für sich einsteht - der Therapeut habe das erkannt und ausgenutzt.
"Atemübungen"
In der zweiten Sitzung habe er ihr erklärt, sie müssten nun in einen anderen Raum der Praxis gehen, er wolle "Atemübungen" mit ihr machen. Wozu das gut sein soll, habe er nicht gesagt. Dunya erinnert sich, dass sie das nicht wollte. Sie habe ihm erklärt, sie nehme Gesangsunterricht, sie brauche keine Atemübungen.
Aber am Ende sei sie ihm doch ins andere Zimmer gefolgt. "Er hat gesagt, ich müsste mich obenherum freimachen", erzählt Dunya, "dann hat er mir mit beiden Händen an die Brust gefasst". Er habe ihre Brustwarze gestreichelt und etwas gesagt wie "ah, ja, schön". "In dem Moment bin ich erstarrt." Die Angst habe sie gelähmt, "ich habe gedacht, wer weiß, was er macht, vielleicht vergewaltigt er mich". Sie habe in dem Moment nur noch daran gedacht, zu überleben.
"Ihr hat er noch Schlimmeres angetan"
Er ging aber nicht weiter. Dunya durfte sich wieder anziehen und betrat nie wieder die Praxis. Sie habe gar nicht richtig begriffen, was passiert war, sagt sie heute, mehr als 20 Jahre später. "Ich habe mich schuldig gefühlt und geschämt, so wie das bei vielen Frauen ist." Sie habe die Schuld bei sich gesucht, dachte, dass sie sich dumm angestellt hätte, dass es vielleicht gar nicht so schlimm war, erinnert sie sich.
Bis sie ein paar Jahre später einen Anruf erhielt. Ein Mitarbeiter der Familienhilfe, dem sie sich damals anvertraut hatte, erzählte ihr: "Hier gibt es eine Frau, der dieser Therapeut noch Schlimmeres angetan hat. Aber man glaubt ihr nicht."
Der Fall, von dem Dunya auf diesem Weg erfuhr, ist der von Claudia. Claudia suchte keine psychologische Hilfe für sich, sondern für ihren Sohn. Der Therapeut habe ihr allerdings gesagt, sie müsse zuerst alleine zu ihm kommen, um über ihren Sohn zu sprechen.
"Ich hatte Todesangst"
Gleich in der ersten Sitzung habe er Fragen zu ihrem Sexleben gestellt. "Dann fing er an, mir einzureden, ich würde nicht tief genug Luft holen, das wäre etwas Psychosomatisches". Bei der zweiten Sitzung habe er deswegen "Atemübungen" machen wollen, erzählt Claudia. Er habe dazu die Tür des Praxisraumes abgeschlossen und ihr gesagt, sie solle sich ausziehen.
"Ich hatte Todesangst", erinnert sich Claudia. "Ich hatte das Gefühl, mir schnürt jemand den Hals zu. Ich war wie in einer Starre." Also zog sie ihr Oberteil aus. Er habe hinter ihr gestanden, sie angefasst und masturbiert. Claudia sagt, sie könne sich ab da nur noch an wenige Bilder erinnern: Wie der Schlüssel von innen in der Tür gesteckt habe, das Bild habe sie noch heute im Kopf.
Claudia entschied sich, den Therapeuten anzuzeigen. Er habe sie nach dem Vorfall immer wieder angerufen, unter Druck gesetzt, sagt sie. Auch Dunya machte für das Verfahren von Claudia eine Zeugenaussage. Und sie unterschrieb einen Strafantrag, auf dem die Polizei "Beleidigung auf sexueller Basis" vermerkt hat. Der Therapeut wurde nach Claudias Anzeige zu einer Geldstrafe von rund 9.000 Euro verurteilt.
Für den Therapeuten war die Geschichte vorbei
Das Ermittlungsverfahren nach Dunyas Strafantrag wurde eingestellt. Für den Therapeuten war die Geschichte damit vorbei, er führte weiter seine Praxis. Für Dunya und Claudia wirken die Vorfälle dagegen bis heute nach: Beide litten lange unter den Folgen - und beide beschäftigt, dass sie nicht verhindern konnten, dass weitere Patientinnen womöglich Ähnliches erlebten. "Ich kam mir machtlos vor", sagt Claudia heute. "Ich fand es so unfair, dass er einfach weiter praktiziert."
Claudia erzählt, dass sie noch mehr als zwei Jahre nach dem Vorfall Panikattacken hatte, plötzlich keine Luft mehr bekam. Manchmal habe sie sich kaum um ihre Kinder und den Haushalt kümmern können.
Dunya sagt, sie habe bis heute Schwierigkeiten, ihre Brüste anzufassen, auch nicht zum Abtasten für die Krebsvorsorge. Ihre Sexualität sei beeinträchtigt, sie wolle auch nicht, dass ein Partner sie an der Brust anfasse, schon gar nicht Ärzte. Als sie damals der Polizei ihren Fall schildern musste, habe ihre Brust regelrecht gebrannt. "Ich habe mich dreckig und schmutzig gefühlt."
Beschwerde ist Jahre später noch möglich
Mittlerweile liegt der Fall der beiden Frauen bei der Psychotherapeutenkammer Hessen, wo sie eine Beschwerde eingereicht haben. Die Kammer kann ihren Vorwürfen nachgehen, was Dunya und Claudia schildern, ist eine deutliche Verletzung der Berufsordnung.
Auch nach Jahren können sich Betroffene noch an die Psychotherapeutenkammer wenden, sagt die Präsidentin der Psychotherapeutenkammer, Heike Winter. Wenn der Verdacht im Raum steht, dass ein Therapeut seine Position missbraucht hat, werde dem nachgegangen. Am Ende kann der Fall vor einem Berufsgericht landen. Dann sind Geldstrafen möglich, in schweren Fällen auch der Entzug der Approbation. Damit dürfte der Therapeut nicht mehr praktizieren.
Allerdings, sagt Winter, kenne sie nur einen Fall aus Hessen, in dem ein Berufsverbot ausgesprochen wurde. Es sei ein Problem, dass Patientinnen und Patienten oft nicht wissen, was ein Therapeut darf und was nicht, dass es mit der Psychotherapeutenkammer eine Beschwerdemöglichkeit gibt und wo sie sonst Hilfe bekommen können. Auch bei Gerichten gebe es noch nicht genug Sensibilität dafür, im Zweifel die Kammer einzuschalten.
"Kein Coaching, kein Rat unter Freunden, kein Kaffeeklatsch"
Eine Psychotherapie ist als Krankenbehandlung ein besonders geschützter Raum, sagt Winter: "Das ist kein Coaching, keine Lebensberatung, kein Rat unter Freunden, kein Kaffeeklatsch" - entsprechend herrschten andere Regeln. Der Therapeut dürfe die Therapie nicht zu seiner persönlichen Bedürfnisbefriedigung nutzen. Es dürften auch keine Geschenke angenommen werden und schon gar keine Liebesbeziehungen oder sexuellen Beziehungen eingegangen werden. Die Regel gilt bis mindestens ein Jahr nach der Therapie, empfohlen wird, auch danach keinen privaten Kontakt zu haben.
Das gilt auch für einvernehmliche Beziehungen. In Studien sei festgestellt worden, dass eine Beziehung mit dem Therapeuten für die Patientinnen am Ende fast immer negativ ausgeht: "Die Patientin stellt dann fest: Er liebt mich gar nicht. Das ist nur vorgespielt gewesen, es ging nur darum, mit mir ins Bett zu gehen", sagt Winter.
Das könne erschütternd sein, auch, weil sich damit häufig frühere schlechte Erfahrungen wiederholten. Es gebe ein klares Machtgefälle in der Psychotherapie: "Der Patient berichtet von seinem Problem, die Therapeutin tut das nicht." Das dafür nötige Vertrauen dürfe auf keinen Fall ausgenutzt werden.
Einfrieren als typische Reaktion
Was Dunya und Claudia schildern, sei "ein massiver sexueller Missbrauch" und ein "schlimmer Verstoß gegen die Berufsordnung", sagt Winter - man hört die Empörung in ihrer Stimme, wenn es um solche Übergriffe geht. "Einzufrieren und nicht mehr reagieren zu können, ist eine klassische Reaktion auf so eine Situation", sagt sie.
Ähnliches schilderten viele Betroffene von "MeToo"-Fällen - dass sie handlungsunfähig waren, sich später fragten: "Warum habe ich nicht geschrien? Warum habe ich mich nicht gewehrt?", sagt Winter. Die Schuld bei sich zu suchen, sei eine typische Reaktion, gerade bei Frauen.
Das Trauma nach solchen Situationen sitze oft tief, brenne sich geradezu ein in den Körper: Eine Berührung oder andere Auslöser können die Erinnerung noch Jahre später hervorrufen, wenn das Geschehene nicht genügend aufgearbeitet wurde, erklärt Winter.
Dunya hat später noch eine Traumatherapie gemacht. Auch Claudia hat es noch einmal mit einer Therapie versucht - unter der Bedingung, dass die Tür während der Sitzungen immer offen stand. Es habe ihr nicht geholfen, sagt sie. Aber falls sie wieder in so eine Situation kommen sollte, will sie sich dieses Mal mit allem, was sie hat, zur Wehr setzen.