So viele Kinder werden in Hessen vermisst – und deswegen verschwinden sie

Der Fall Pawlos bewegt Weilburg und ganz Hessen: Seit Wochen fehlt von dem sechsjährigen Jungen jede Spur. Pawlos ist eines von über hundert vermissten Kindern in Hessen. Ein Blick auf Zahlen und Fakten, hinter denen zahlreiche Schicksale stecken.

Mehrere Polizisten und ein Polizeihund sitzen in einem Boot und suchen die Lahn nach Spuren von Pawlos ab.
Auf der Suche nach dem sechsjährigen Pawlos wird die Lahn bei Weilburg mit Polizeihunden abgesucht. Bild © Mike Seeboth

Ein Kind wird vermisst – ein Albtraum, der für die Familie des sechsjährigen Pawlos aus Weilburg bittere Realität geworden ist. Seit Wochen fehlt von dem Jungen jede Spur. Die Polizei sucht mit Hochdruck, Spürhunde kommen zum Einsatz, Hinweise werden überprüft. Die Anteilnahme in der Region ist groß.

Doch so außergewöhnlich der Fall scheint, ist er leider kein Einzelfall. Hinter jedem vermissten Kind stehen Angehörige zwischen Verzweiflung und Hoffnung – und mit vielen offenen Fragen.

Wie oft verschwinden Kinder in Hessen? Wie gehen die Ermittlungsbehörden vor? Wie viele Kinder kommen zurück?

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Ab welchem Zeitraum gelten Kinder als vermisst?

Sobald Minderjährige ihre gewohnte Umgebung verlassen haben und die Eltern nicht wissen, wo sie sind, gelten Kinder als vermisst. Solange die Ermittlungen nichts anderes ergeben, geht die Polizei davon aus, dass sich die Kinder in Lebensgefahr befinden könnten.

Anders stellt sich die Lage bei verschwundenen Erwachsenen dar: Die Polizei ermittelt den Aufenthaltsort von vermissten Personen über 18 Jahren nur dann, wenn Gefahr für Leib oder Leben der Betroffenen besteht, stellt das Bundeskriminalamtes (BKA) klar.

Wie viele Kinder werden in Hessen vermisst?

Pawlos ist eines von 117 Kindern unter 14 Jahren, die nach Angaben des BKA mit Stichtag 1. April momentan vermisst werden. Im vergangenen Jahr hat das BKA 791 vermisste Kinder in Hessen gezählt. Davon hätten sich 757 Fälle aufgeklärt.

Wie viele Kinder werden wieder gefunden?

Glücklicherweise bleibt nur eine kleine Zahl Kinder verschwunden, die Aufklärungsquote bei diesen Vermisstenfällen lag laut BKA in den vergangenen sechs Jahren in Hessen bei 99,8 Prozent. Etwa die Hälfte aller Fälle habe sich bereits nach der ersten Woche erledigt, nach einem Monat bereits über 80 Prozent aller Fälle.

Wie viele Langzeitvermisstenfälle gibt es in Hessen?

Nach Angaben des BKA werden nur drei Prozent der verschwundenen Kinder (unter 14 Jahre) in Hessen länger als ein Jahr vermisst. Dazu zählen häufig auch Fälle von Kindesentziehungen, das bedeutet, wenn beispielsweise ein Elternteil die Kinder ins Ausland entführt. "Hier gehen oft Streitigkeiten der Eltern über die Ausübung des Sorgerechts voran", sagt Pressesprecher Maximilian Krüger vom Landeskriminalamt Hessen (LKA).

In der Regel würde in diesen Fällen keine Gefahr für die Kinder bestehen, oft sei sogar ihr Aufenthaltsort bekannt. Ebenfalls oft lange vermisst werden minderjährige Geflüchtete, sobald sie sich aus den ihnen zugewiesenen Einrichtungen entfernen - um beispielsweise bei Verwandten unterzukommen oder in andere EU-Staaten zu reisen, erklärt Krüger.

Dann könne es passieren, dass bei der nächsten Behörde die Schreibweise eines Namens abweiche und die Personalien nicht mehr gleich seien. Demnach können dann bestehende Fahndungen nicht gelöscht werden, der Vermisstenfall gilt als "nicht geklärt". Momentan werden insgesamt 635 Vermisste allen Alters aus Hessen länger als zwei Monate gesucht (Stand 1. April).

Mit einem Foto des vermissten Pawlos aus Weilburg sucht das BKA auf Infoscreens im Hauptbahnhof nach dem vermissten Jungen.
Auch an Bahnhöfen wird nach Pawlos gesucht. Bild © picture-alliance/dpa

Was sind die häufigsten Ursachen für das Verschwinden von Kindern?

Bei einem Großteil der vermissten Kinder handelt es sich laut BKA um Fälle von Kindesentziehungen (wenn beispielsweise ein Elternteil das Kind entführt), Dauerausreißern oder unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. Nur bei einem sehr geringen Teil, teilt die Behörde mit, "muss von einem Unglücksfall oder dem Vorliegen einer Straftat ausgegangen werden."

Die Gründe, warum Kinder verschwinden, unterscheiden sich stark je nach Altersgruppe, schreibt die Initiative Vermisste Kinder. Im Grundschulalter könne es passieren, dass sich Kinder verirren oder durch Abenteuer verleitet werden, unbekanntes Terrain zu betreten. "Manchmal laufen Kinder auch nach Streitigkeiten oder Frustration von zu Hause weg, kehren jedoch in der Regel schnell zurück", so die Intitative.

Bei Jugendlichen sinkt demnach die Gefahr zu verunglücken, dafür steige die Gefahr Kriminalitätsopfer zu werden - vor allem im Internet. Im Fall der sogenannten "Loverboys" werden junge Mädchen gezielt umgarnt und in eine emotionale Abhängigkeit geführt, die dann ausgenutzt wird, um sie in illegale Aktivitäten oder Zwangsprostitution zu drängen.

Mit welchen Mitteln wird nach vermissten Kindern gesucht?

Zeitweise waren hunderte Einsatzkräfte und Helfer bei der Suche nach dem vermissten Pawlos aus Weilburg beteiligt. Auch der Einsatz eines Aufklärungsflugzeugs der Bundeswehr brachte keine weiteren Spuren. Ebenfalls im Einsatz waren sechs Taucher und mehrere Suchhunde sowie erstmals ein Sonarboot. Welche Mittel eingesetzt werden, entscheidet die jeweils zuständige Dienststelle, sagt LKA-Sprecher Maximilian Krüger: "Jeder Fall wird individuell geprüft und bewertet."

In welchen Schritten die Suche erfolgt, erklärt Carsten Werner vom Polizeipräsidium Westhessen, das auch für die Suche nach Pawlos zuständig ist: Erst werden alle Dienststellen in Deutschland über die Suche nach dem Kind informiert, dann wird die Suche vor Ort eingeleitet, falls der letzte Aufenthaltsort bekannt ist, sagt Werner.

Wichtig für die Suche sei, dass "wir fast sofort informiert werden", so der Polizeihauptkommissar, sobald das Verschwinden bemerkt wird. Wichtig für die Polizei seien dann folgende Fragen: Wie sieht das Kind aus? Welche Bekleidung trägt es? Und was sind die Hintergründe für das Verschwinden?

Wie lange wird nach einem vermissten Kind gesucht?

Grundsätzlich bleibt ein Vermisstenfall so lange offen, bis sich der Fall durch Auffinden der betroffenen Person erledigt hat, teilt das BKA mit.

Auf ihrem Online-Auftritt sucht die Polizei Hessen nach Zeugen, die eine vermisste Person gesehen haben oder Hinweise über deren Aufenthaltsort geben können. Unter den vermissten Personen sind auch zahlreiche Minderjährige.

Glücklich ging die Suche nach einer Neunjährigen Ende vergangenen Jahres aus. Das Kind war verschwunden, nachdem es mit einer Reisegruppe aus Uganda den Frankfurter Weihnachtsmarkt besucht hatte. Einen Tag später tauchte das Mädchen wohlbehalten bei Verwandten auf.

Sendung: hr3,

Quelle: hessenschau.de