Rassistische Tat vor vier Jahren Trauer, Wut und Hoffnung: Tausende erinnern an Anschlag in Hanau
Vier Jahre nach dem rassistisch motivierten Attentat von Hanau haben mehrere tausend Menschen der Opfer gedacht. Sie setzten auch ein Zeichen gegen Rassismus – und prangerten erneut behördliche Fehler an.
Es sind 5.000, vielleicht 8.000 Menschen, die sich an diesem Samstagnachmittag am Kurt-Schumacher-Platz in Hanau-Kesselstadt auf den Weg machen. Angeführt von Angehörigen der Opfer des rassistischen Anschlags vom 19. Februar 2020 gehen sie die Philippsruher Allee entlang. Sie füllen die Straße in ihrer ganzen Länge aus. Sie rufen "Hanau, es war Mord, Widerstand an jedem Ort" und "Wo wart ihr in Hanau?" (gemeint ist die Polizei) und "Hanau ist kein Einzelfall, Widerstand überall".
Mit dieser Mischung aus Wut, Trauer, Betroffenheit, Solidarität, Hoffnung, Enttäuschung und Entschlossenheit erreichen sie nach gut einer Stunde den Marktplatz in der Hanauer Innenstadt.
Die Demonstrantinnen und Demonstranten nehmen damit den umgekehrten Weg des rechtsextremen Attentäters von vor vier Jahren. Binnen weniger Minuten erschoss der Mann zunächst am Heumarkt nahe des Marktplatzes drei Menschen, raste im Auto nach Kesselstadt und tötete dort weitere sechs Menschen. Seine neun Opfer stammten allesamt aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte. Kurz darauf erschoss er in seinem Elternhaus seine Mutter und sich selbst.
"Starkes Zeichen gegen Rassismus"
Çetin Gültekin ist einer der Menschen, dessen Leben jener 19. Februar in ein Vorher und ein Nachher teilt. Damals wurde sein Bruder Gökhan erschossen. Bevor sich der Demonstrationszug in Gang setzt, schaut sich Cetin Gültekin am Kurt-Schumacher-Platz um. "Dass so viele Menschen hierher kamen, macht mich als Gökhans Bruder stolz. Das ist ein starkes Zeichen gegen Rassismus", sagt er.
Helfer der Initiative 19. Februar, deren Sprecherin Newroz Duman von der Ladefläche eines Lastwagens zu der Menge spricht, verteilen 1.000 Schilder mit Bildern der Getöteten, die im Demozug allgegenwärtig sind. Gültekin nimmt den großen Zulauf "als Bestätigung unserer Arbeit". Höchste Zeit, wie er findet: "Man sieht am Attentat von Hanau, wie aus bösen Worten der AfD böse Taten werden – nun werden aus guten Worten auch gute Taten."
Neben ihm steht Adnan Saidi, der am Morgen im nordrhein-westfälischen Münster aufgebrochen ist, um nach Hanau zu kommen. Zu dieser coronabedingt ersten zentralen Jahrestagsdemo wurde bundesweit mobilisiert. Saidi sagt, die Menschen in Deutschland müssten handeln gegen Rassismus: "Die Leute müssen spüren, dass es falsch ist, andere auszugrenzen."
"Anteil der Zuwanderer wertschätzen"
Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov haben ihr ganzes Leben in Hanau verbracht oder zumindest große Teile davon. Den größten Teil ihres Lebens hätten sie noch vor sich gehabt, hätte der Attentäter nicht willkürlich auf sie geschossen.
Aus den Lautsprechern auf dem Lastwagen vorn im Demozug erklingt ein Lied: "Sind geboren, aufgewachsen in Deutschland, aber fühlen uns als Fremde bis heute, respektierten Gesetze und Regeln, aber bezahlten mit unserem Leben."
Ungut an die rassistischen Brandanschläge in den 1990er Jahren erinnert fühlt sich da Bilge Yüksel. Mit einigen Freundinnen und Freunden ist die junge Frau aus Wuppertal angereist. Die vielen Demos gegen Hass und Hetze in letzter Zeit machten ihr Mut, sagt sie, der immer offener zutage tretende Rassismus mache ihr Angst. Was kann man dagegen tun? "Auf die Straße gehen, die 90er Jahre und die Nazizeit aufarbeiten, den Anteil der Zuwanderer an der Geschichte der Bundesrepublik wertschätzen", sagt Yüksel.
"642 Seiten voller behördlicher Fehler"
Der Demozug nähert sich seinem Ziel. Newroz Duman von der Initiative 19. Februar wiederholt auf dem Lastwagen die Vorwürfe gegen den früheren hessischen Innenminister Peter Beuth (CDU), die Polizei und die Behörden: dass der Notruf der Hanauer Polizei in der Tatnacht teils unbesetzt, dass der Notausgang am zweiten Tatort verschlossen gewesen sei, dass viele der an den Tatort gerufenen SEK-Beamten in rechtsextremen Chatgruppen aktiv gewesen seien.
All dies ist aus Sicht der Hinterbliebenen unzureichend aufgearbeitet – ungeachtet des Untersuchungsausschusses im Landtag, der im Dezember seinen Abschlussbericht vorgelegt hat. "642 Seiten voller behördlicher Fehler", sagt Ajla Kurtović, die ihren Bruder Hamza am 19. Februar 2020 verlor.
Wie alle anderen Opferangehörigen, die sich auf dem Marktplatz in der Hanauer Innenstadt äußern an diesem Samstag, fordert sie die politisch Verantwortlichen auf, tatsächlich Verantwortung zu übernehmen für die Versäumnisse von Polizei und Behörden rund um das Hanauer Attentat. Weder sei Beuth zurückgetreten noch hätten ihn die Pannen beim Polizeieinsatz davon abgehalten, den zuständigen Polizeipräsidenten Roland Ullmann kurz nach dem Attentat zu befördern, kritisieren viele Angehörige.
"Zusammenhalt in Gesellschaft ist da"
Çetin Gültekin verweist in seiner kurzen Rede auf dem Marktplatz auf den wachsenden Zulauf für die AfD. Deren Zustimmungswerte seien größer sei als vor vier Jahren. "Wir müssen uns fragen: Was machen wir falsch?" Gültekin fordert ein entschiedenes Vorgehen gegen Rechtsextremismus und eine Aufarbeitung des Anschlags "ohne Vertuschung, Ausreden und Lügen". Die Angehörigen hätten schon bisher die Aufklärung vorangetrieben, "wir machen weiter".
"Erinnern heißt verändern", betonen Rednerinnen und Redner immer wieder. Das bedeute: Der furchtbare rassistische Anschlag müsse politische Konsequenzen haben, damit sich so ein Verbrechen nicht wiederhole. "Veränderung kann es nur geben, wenn es Aufklärung und Gerechtigkeit gibt", sagt Ajla Kurtović.
Dass nach Polizeiangaben 5.000, nach Veranstalterangaben sogar 8.000 Menschen nach Hanau gekommen sind vier Jahr nach dem Attentat, ist für Ajla Kurtović ein Zeichen dafür, dass viele "gemeinschaftlich kämpfen wollen für Veränderung". Sie sieht darin ein Zeichen dafür, "dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft nach wie vor da ist".
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 17.02.2024, 19.30 Uhr
Redaktion: Bernhard Böth