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Caritas arbeitet Geschichte der Kinderkurheime auf

Das Privatfoto aus dem Jahr 1954 zeigt Christoph Sandig aus Leipzig, Jahrgang 1946, in einer Kinderheilstätte in Westdeutschland. Dorthin war er wegen mehrerer Lungenentzündungen geschickt worden.

Drakonische Regeln, Erniedrigungen, Schläge: In der Kinderheilstätte in Bad Nauheim haben tausende Kinder in der Nachkriegszeit gewaltsame Erfahrungen gemacht. Die Caritas hat die Vorfälle in einer Studie untersucht. Jetzt liegen die Ergebnisse vor.

"Wir arbeiten Geschichte auf und machen Unrecht sichtbar." Mit diesen Worten hat Diözesancaritas-Direktorin Nicola Adick am Dienstag eine Studie vorgestellt, mit der die Gewalt in zwei früheren Caritas-Kinderheimen des Bistums Mainz aufgearbeitet werden soll. Das Bistum liegt zu etwa zwei Dritteln auf hessischem Gebiet.

Die meisten Kinder, die sich in der Nachkriegszeit in der Kinderheilstätte St. Josef in Bad Nauheim (Wetterau) und in Allerheiligen im Schwarzwald aufhielten, seien kontrolliert, eingeschüchtert und gedemütigt worden. Sie haben "keine erholsame Zeit verbracht, im Gegenteil", sagte Adick.

Prügelstrafen und Toilettenverbote

Der Bericht schildert beispielsweise, wie mit Prügelstrafen durchgesetzt wurde, dass Kinder das ihnen vorgesetzte Essen vollständig aufaßen und die strikten Ruhezeiten einhielten. Teilweise sei ihnen befohlen worden, ihr Erbrochenes zu essen.

Ehemalige Heimbewohner berichteten vom Verbot, nachts die Toilette zu benutzen. Viele hätten deshalb eingenässt und seien dann bestraft worden. Postkarten an die Eltern wurden streng kontrolliert. Kritik oder Bitten, abgeholt zu werden, durften nicht geäußert werden.

Die Recherchen förderten auch Belege für sexuelle Grenzverletzungen zutage. Im Rahmen der Aufarbeitungsstudie über sexuelle Gewalt im Bistum Mainz war zudem der Fall eines Betroffenen bekannt geworden, der angegeben hatte, als Junge in Allerheiligen durch einen Hausgeistlichen vergewaltigt worden zu sein. Weitere Belege für die Tat fanden sich im Rahmen der aktuellen Spurensuche nicht.

Aktenrecherche und Zeitzeugen

Vorgelegt wurde die Studie "Aufarbeitung und Dokumentation" vom Büro für Erinnerungskultur in Babenhausen (Darmstadt-Dieburg). Der Historiker Holger Köhn hatte dafür nach eigenen Angaben ein Jahr lang in verschiedenen Archiven recherchiert.

Auf einen Aufruf hätten sich außerdem 20 ehemalige Kurkinder der Heilstätten in Bad Nauheim und Allerheiligen gemeldet und zu Interviews bereit erklärt. Diese Zeitzeugen berichteten, dass sie die Erlebnisse und Ängste aus der Zeit noch immer begleiten. 

Bistum: "Übernehmen Verantwortung"

Nach den Recherchen waren insgesamt rund 15.000 Kinder in der Kinderheilstätte Bad Nauheim untergebracht. In Allerheiligen werde die Zahl der Kinder auf mehr als 20.000 Kinder geschätzt. Sie stammten aus verschiedenen Teilen Deutschlands, viele aus dem Gebiet des Bistums Mainz und aus der Region Westfalen-Lippe.

Verantwortlich für die beiden Kinderheime waren Caritas-Führungskräfte, die in der Regel Geistliche des Bistums Mainz waren. "Auch als Bistum Mainz übernehmen wir Verantwortung", sagte Stephanie Rieth, Bevollmächtigte des Generalvikars.

"Die Studie mahnt uns, in unseren Bemühungen nicht nachzulassen", ergänzte Stefan Wink, Bereichsleiter und Interventionsbeauftragter beim Caritasverband für die Diözese Mainz. Eine finanzielle Entschädigung der Opfer sei nicht geplant.

Viele Millionen Verschickungskinder

Als sogenannte Verschickungskinder wurden in der jungen Bundesrepublik Jungen und Mädchen bezeichnet, die wegen gesundheitlicher Probleme oder aufgrund von Mangelernährung ohne Begleitung der Eltern an mehrwöchigen Kuraufenthalten teilnahmen. Viele der Einrichtungen befanden sich in kirchlicher Trägerschaft.

Nach Schätzungen der Caritas wurden seit den 1950er Jahren bis in die 1980er Jahre hinein zwischen acht und zwölf Millionen Kinder zur Erholung in Kureinrichtungen geschickt und haben ebenfalls Leid erfahren. Aufgrund schwindender Nachfrage wurde das Heim in Bad Nauheim 1963 und die Einrichtung in Allerheiligen 1978 geschlossen.

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