Trauergang für Betroffene von ME/CFS in Frankfurt Warum eine Mutter für ihren kranken Sohn demonstriert
Paul Fay ist schwer an der als bislang unheilbar geltenden Krankheit ME/CFS erkrankt - sein Zimmer kann der 27-Jährige kaum noch verlassen. Bei einer Liegend-Demo in Frankfurt machen Betroffene auf die Krankheit aufmerksam - obgleich viele nicht dabei sein können.
"Trauergang - wer geht für uns zur Demo?" steht in großen Buchstaben auf dem Plakat, das Evelyn Fay an das Schwarze Brett der Frankfurter Goethe-Universität heftet.
Das Gebäude zu betreten und die Studierenden zu sehen, ist für Fay kein einfaches Unterfangen. "Es macht mich traurig", sagt sie. Denn ihr heute 27 Jahre alter Sohn Paul hat selbst hier studiert - Politik und Geschichte. Bis er schwer an Myalgischer Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) erkrankte.
So schwer, dass er am Samstag nicht selbst bei der Demonstration in Frankfurt dabei sein kann, bei der von der Krankheit Betroffene symbolisch um ihre verlorene Lebenszeit trauern. An seiner Stelle nimmt seine Mutter teil.
"Sein Leben, wie wir es kannten, war vorbei"
Paul Fay kann sein Bett seit über zwei Jahren nicht mehr selbstständig verlassen. Am 16. September 2021, so beschreibt es die 59 Jahre alte Frankfurterin, "war das Leben unseres Sohnes, so wie wir es kannten, vorbei".
Er habe gerade an seiner Bachelorarbeit geschrieben und sei auf der Suche nach einer eigenen Wohnung gewesen, als er nicht mehr gehen konnte. Schon in den Monaten zuvor habe er zunehmend an Schwäche, Muskel- und Gelenkschmerzen gelitten.
Die leisesten Geräusche fügen ihm seither Schmerzen zu, erzählt Evelyn Fay. Er leidet zudem unter der sogenannten Fatigue, kann sich nur noch kurz konzentrieren und erleidet nach kleinen Anstrengungen wie Gehen oder längeren Gesprächen Zusammenbrüche mit einer Verschlimmerung seiner Symptome.
Betreuung rund um die Uhr
"Als wir damals meinen Sohn in das Zimmer getragen haben - in das einzige, das kein Parkett hat, weil das zu sehr knirscht - haben mein Mann und ich eine Woche lang geweint", erinnert sich seine Mutter. "Es war die Hölle."
Ihr Sohn kann sich nur mit Mühe aufrichten, ins Badezimmer muss er im Rollstuhl geschoben werden. Zum Schutz vor Geräuschen trägt er Gehörschutz. An Silvester hat die Familie das Fenster seines Zimmers mit Schaumstoff abgedichtet, um ihn vor dem Lärm zu schützen. Paul isst mit Holzbesteck und Silikongeschirr, damit es nicht zu laut klappert.
Um Paul zu helfen, ist rund um die Uhr jemand aus der Familie zu Hause. Seine Mutter, die als selbstständige Visagistin arbeitet, hat ihre Arbeitszeit auf ein Drittel reduziert. Auch der Vater, der als selbstständiger Architekt teilweise von zu Hause aus arbeitet, kümmert sich um Paul.
Krankheit führt oft zu Behinderung
Myalgische Enzephalomyelitis/ das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führen kann, wie die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e.V. beschreibt.
Schwer Betroffene können demnach unter anderem nicht mehr für längere Zeit stehen oder sitzen. Selbst kleinste Anstrengungen wie das Umdrehen im Bett werden zum Kraftakt. Viele empfinden bei Licht oder Geräuschen Schmerzen, leiden unter Herzrasen, Schwindel, Benommenheit und Blutdruckschwankungen. Ein Viertel aller Patienten kann das Haus nicht mehr verlassen. Viele sind bettlägerig und auf Pflege angewiesen. Schätzungsweise über 60 Prozent sind arbeitsunfähig.
Ein Heilmittel gibt es bislang nicht. "Es gibt wahrscheinlich keine Krankheit, die in Relation so häufig, schwerwiegend und dabei so unerforscht ist wie ME/CFS", kritisiert die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e.V.
Die Ursachen für die Krankheit sind vielfältig und noch nicht vollständig geklärt. Als Auslöser gelten bisher unter anderem das Epstein-Barr-Virus, das das Pfeiffersche Drüsenfieber hervorruft, COVID-19 oder Impfungen. Experten gehen davon aus, dass durch Corona die Zahl der Betroffenen weiter steigen wird.
Diagnose erst nach langer Suche
Was die Ursache für den Ausbruch der Krankheit bei Paul Fay war, ist nicht abschließend geklärt. Möglich sei eine vorhergegangene Corona-Infektion als Auslöser, so Evelyn Fay. Aber es seien auch Hinweise auf das Epstein-Barr-Virus gefunden worden.
Sie beklagt bei Ärzten mangelnde Kenntnis der Krankheit. Erst nach sehr langer Facharztsuche habe Paul letzten Endes zumindest seine Diagnose bekommen. Oft würden Patienten falsch diagnostiziert. Ihr Sohn sei zum Beispiel in einem Krankenhaus eine Depression unterstellt worden. "Die somatische Ursache ist unbekannt und deshalb muss die Psyche als Ursache herhalten."
Als weiteres Problem nennt sie: "Kaum ein Arzt kennt die Zustandsverschlechterung nach Anstrengung." Deswegen würden fatalerweise durch Rehamaßnahmen mit Bewegungsanteil erkrankte Menschen geradezu "in die Bettlägerigkeit getrieben".
Kassenärztliche Vereinigung: "Vieles noch experimentell"
Mängel, die die Kassenärztliche Vereinigung Hessen zumindest in Teilen bestätigt. "Sicherlich ist die Versorgung der Betroffenen nicht einfach", wie ein Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen auf hr-Anfrage mitteilt. Das habe mit der Art der Erkrankung und den Symptomen zu tun, die oft unspezifisch seien.
Auch gebe es noch keine in Leitlinien festgelegten Therapieansätze, die im Übrigen künftig vom Hausarzt koordiniert werden sollen. "Das, was dazu in Leitlinien bisher festgeschrieben wurde, ist vor allem diagnostisch, weniger therapeutisch", so der Sprecher. "Hier läuft vieles tatsächlich noch experimentell."
Hoffnung auf Forschung
Entsprechend ist mehr Forschung das wichtigste Anliegen von Paul Fay, wie er mit Hilfe seiner Mutter per Mail schreibt: "Ich wünsche mir, dass ME/CFS mit Medikamenten behandelbar wird, damit ich wieder eigenständig leben kann. Dass ich nicht Tag für Tag im Bett liegen muss, und ich nicht mehr so eingeschränkt bin wie jetzt."
Dafür müsse von der Politik ein angemessener Betrag in die Medikamenten- und Grundlagenforschung von ME/CFS investiert werden. Außerdem müssten Ärzte im Medizinstudium und in Weiterbildungen über die Krankheit aufgeklärt werden.
Auf die Frage, welches Bild er vor Augen habe, wenn es eine Sache gäbe, die er wieder machen könnte, schreibt Paul: "Ich würde gerne mit meinen Freunden im Sommer im Park sitzen, Musik hören und Fußball spielen."