"Wir sind am Limit" Überfüllte Pflegeheime führen zu Entlassungsstau in Krankenhäusern
Der Mangel an Pflegekräften wirkt sich bis in die Krankenhäuser aus: Pflegebedürftige Patienten können nicht entlassen werden, weil es immer schwieriger wird, im Anschluss einen Platz in einem Heim zu finden. Manche müssen sogar Monate auf den Stationen verweilen.
"Die Lage ist angespannt", sagt Susanne Specht. Für Patienten, die nach einer Behandlung im Krankenhaus nicht alleine wohnen können, muss sie eine passende Folgeversorgung finden. Als Leiterin des Sozialdienstes der Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken in Wiesbaden ist Specht für das sogenannte Entlassmanagement verantwortlich.
Die Suche nach einem Heimplatz werde immer schwieriger, sagt Specht. 20 bis 30 Einrichtungen rufe und schreibe ihr zehnköpfiges Team täglich an, um zu fragen, ob sie einen ihrer Patienten dort unterbringen können. "Damit wir verlegen können, muss dort ein Mensch gestorben sein."
Für manche Patienten suchen sie Tage, für andere Wochen. Besonders in Erinnerung geblieben ist Specht ein Patient mit mehrfachen Krebserkrankungen, dem auch noch ein Unterschenkel amputiert werden musste. "Er hatte einen großen Freundeskreis in Wiesbaden und wollte hier nicht weg", sagt sie, "verständlicherweise".
Nach drei Wochen intensiver Suche fand sie ein freies Zimmer am Stadtrand. "Auch wenn die Zeit drängt: Lieber brauche ich ein bis zwei Tage länger, als dass ich keine gute Lösung finde", sagt sie.
Problem ist den meisten Kliniken bekannt
Dass Patienten zehn Tage länger auf einer Station bleiben, sei nicht ungewöhnlich, sagt auch Norbert Schütz, Direktor der Geriatrie in der Wiesbadener Klinik. Fünf bis zehn Prozent seiner Patienten gehe es inzwischen so. "Das Problem verschärft sich."
Die Erfahrungen aus der Wiesbadener Klinik passen zu einer bundesweiten Umfrage des ARD-Politikmagazins "Report Mainz". Von 330 Kliniken bestätigten 88 Prozent, dass Patienten in den vergangenen zwölf Monaten länger als zehn Tage über die medizinische Notwendigkeit hinaus auf den Stationen bleiben mussten – weil für sie keine Anschlussversorgung gefunden werden konnte.
Gründe gibt es mehrere: Der demografische Wandel führt dazu, dass der Bedarf an Pflegeplätzen immer größer wird. Außerdem wohnen Familien immer weiter voneinander entfernt, sodass Pflege vermehrt zur externen Aufgabe wird. Die Erwartungen der Patienten und Angehörigen seien ebenfalls gestiegen, sagt Susanne Specht. Sie haben das Wahlrecht, dürfen also auch Plätze, die ihnen das Krankenhaus vorschlägt, ablehnen. Gleichzeitig sind die Pflegedienste und Heime überlastet, das Personal rar.
1.000 Absagen in einem halben Jahr
Fünf bis acht Mal am Tag wird in seinen Einrichtungen ein Interessent abgewiesen, schätzt Frank Kadereit, Geschäftsführer der Evim Altenhilfe mit Heimen in Wiesbaden, dem Main-Taunus- und dem Hochtaunuskreis.
In den vergangenen sechs Monaten habe er sogar jede einzelne Anfrage abgelehnt. Mehr als 1.000 seien in diesem Zeitraum wohl zusammengekommen, rechnet Kadereit vor – auch, weil die Zahl der Anfragen nach den Corona-Lockdowns sprunghaft gestiegen sei.
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Kadereit kann keine neuen Bewohnerinnen oder Bewohner aufnehmen, weil er die Heimplätze kürzlich von 1.200 auf 1.050 reduzieren musste. Denn einige Mitarbeiterinnen seien in Rente gegangen. Andere wurden von Leihfirmen abgeworben, die sich höhere Löhne leisten könnten. Das verbliebene Personal kam mit der Arbeit nicht mehr hinterher.
Drei von vier Heimen mussten Leistungen kürzen
Die Leiharbeit ist "Fluch und Segen zugleich", so schildern es mehrere Heimleitungen. Leerstehende Zimmer können sie sich nicht leisten, deshalb werden oft Leiharbeiter eingestellt. Doch für die zahlen die Einrichtungen nach eigenen Angaben doppelt bis dreimal so viel wie für eine angestellte Pflegekraft. Geld, das die Betreiber eigentlich nicht haben.
Ende Mai befragte die Diakonie Hessen knapp 100 stationäre Pflegeeinrichtungen und ambulante Pflegedienste zu ihrer finanziellen Situation. Ein Drittel sieht sich demnach von Insolvenz bedroht. 75 Prozent mussten ihre Leistungen in den vergangenen sechs Monaten wegen Personalengpässen kürzen.
Auch ambulante Dienste unter Druck
Sie habe ein schlechtes Gewissen, wenn sie Anfragen aus den Krankenhäusern ablehne, sagt Christina Walther-Schreiber, Pflegedienstleitung bei der Diakonie in Rodenbach (Main-Kinzig). "Mir ist bewusst, dass die Angehörigen unter massivem Druck stehen."
Doch auch ihr ambulanter Dienst musste zuletzt kürzen: Von elf Touren mit Hausbesuchen musste Walther-Schreiber zwei streichen, weil sie fünf offene Pflegestellen im ganzen letzten Jahr nicht besetzen konnte. 48 Menschen weniger werden nun von der Diakonie versorgt. "Wir führen auch keine Warteliste mehr, weil wir nicht absehen können, wann wir wieder jemanden aufnehmen können."
Eine lückenlose Versorgung sei derzeit nicht mehr gewährleistet, sagt Walther-Schreiber. "Das ist deprimierend für uns." Auch, weil es einen "Drehtüreffekt" gebe: Unterversorgte Patienten müssten häufiger ärztlich behandelt werden. "Die Krankenhäuser haben einen massiv höheren Aufwand, wenn die ambulante Pflege nicht übernehmen kann. Wir sind alle am Limit."
Monatelanges Warten auf Betreuungsverfahren
Rechtlich sind die Krankenhäuser seit 2017 verpflichtet, sich um einen nahtlosen Übergang pflegebedürftiger Patienten zu kümmern, also beispielsweise um einen Platz in einem Heim. Wird erst während eines Krankenhausaufenthalts ein Pflegebedarf festgestellt, müssen die Sozialdienste der Krankenhäuser auch den Kontakt zur Pflegekasse herstellen, damit der Patient in einen Pflegegrad eingestuft wird.
Doch auch an dieser Stelle hakt es oft. "Demente Patienten, die nicht mehr für sich selbst entscheiden können, brauchen vorher eine gesetzliche Betreuung", sagt Geriater Norbert Schütz. Die Betreuungsverfahren am Amtsgericht würden jedoch oft Wochen dauern. "Wir hatten schon Patienten, die Monate bei uns lagen, weil die Bearbeitungszeit beim Gericht so lang war."
Eine "Pflege-Triage"?
Nach Schütz' Erfahrung haben Patienten mit einem hohen Pflegebedarf ohnehin besonders schwer. "Die Pflegeheime fragen sich zu Recht: Was können wir noch leisten? Wir spüren, dass es eine Art Triage gibt."
Sonja Driebold, Leiterin der Abteilung Gesundheit, Alter und Pflege bei der Diakonie Hessen, bestätigt, dass es "in der Praxis zu einer Auswahl und eventuell auch zu einer Selektion kommen kann". Je komplexer der Bedarf, desto schwieriger sei es für die Heime oder ambulanten Dienste, die Versorgung in ihre Abläufe oder Touren einzuplanen. Nach Driebolds Erfahrung haben es auch diejenigen schwerer, die keine Angehörigen haben, die sich gemeinsam mit den Krankenhäusern um eine Versorgung bemühen.
Bernhard Pammer möchte nicht von einer Triage sprechen. Der Begriff sei zu negativ besetzt, sagt der Geschäftsführer des Gesundheitskonzerns Agaplesion Wohnen und Pflegen Süd, der in Hessen rund 1.000 Heimplätze anbietet. "Manchmal kann ich ja nicht anders entscheiden." Beatmungspatienten beispielsweise dürfe er in seinen Heimen gar nicht aufnehmen, weil diese nicht auf den speziellen Bedarf ausgerichtet seien. 80 Prozent aller Anfragen müsse er im Schnitt ablehnen. In einigen Heimen gebe es Aufnahmestopps.
Im Winter werden Patienten in andere Krankenhäuser verlegt
Noch sei die Situation regional und saisonal unterschiedlich, sagt Achim Neyer, Geschäftsführer des GPR Klinikums Rüsselsheim. In seinem Klinikum gebe es zwei bis drei Patienten pro Woche, die im Schnitt eine, manchmal auch zwei oder drei Wochen länger auf eine Anschlussversorgung warten müssten. Meist gehe es dabei um einen Kurzzeitpflegeplatz. "Wir planen die Entlassung bei der Einlieferung schon mit, trotzdem klappt es nicht in allen Fällen reibungslos."
Jetzt im Sommer sei die Situation etwas entspannter. Doch im Winter, wenn auch mal für 20 Patienten gleichzeitig ein Pflegeplatz gefunden werden müsse, "wird das schon wieder eine Herausforderung". Schlimmstenfalls müsse die Klinik Notfallpatienten nach der Erstaufnahme in andere Krankenhäuser verlegen lassen, weil alle Betten belegt sind. "Drei, vier Mal pro Woche kommt das im Winter schon vor."
9.000 zusätzliche Pflegekräfte nötig
In Zukunft könnte die Suche nach einem Heimplatz noch schwieriger werden. Schon 2020 wären in Hessen 12 Prozent mehr Altenpfleger nötig gewesen, ergab der Hessische Pflegemonitor, den das Sozialministerium alle zwei Jahre veröffentlicht. Krankenhäuser, ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen seien von dem Mangel gleichermaßen betroffen gewesen.
Für das Jahr 2040 prognostiziert das Sozialministerium wegen der alternden Bevölkerung einen zusätzlichen Bedarf von 9.000 Altenpflegern.
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"Frustriert" und "resigniert" sei er, weil die Probleme seit Jahren bekannt seien, sich aber trotzdem nichts an der Situation ändere, sagt Frank Kadereit von der Evim Altenhilfe. "Bei den Ausgaben für Gesundheit ist Deutschland führend, aber bei der Pflege liegen wir im europäischen Vergleich weit hinten."
Branche fordert tiefere Reformen
Die Finanzierung der Pflege müsse grundlegend geändert werden, fordert auch die Diakonie Hessen. Zum 1. Juli wurde auf Bundesebene das neue Pflegeentlastungsgesetz eingeführt, mit dem die Beitragssätze und ab 2024 auch das Pflegegeld für pflegende Angehörige erhöht werden. Doch das könne die immens gestiegenen Kosten nicht ausgleichen, kritisieren Sozial- und Pflegeverbände.
Außerdem löse die Reform den Fachkräftemangel nicht: Abschlüsse aus dem Ausland müssten dringend besser anerkannt werden, fordern Heimleitungen. Und ausländisches Personal, das einen Job gefunden habe, dürfe nicht wieder abgeschoben werden, sagt etwa Bernhard Pammer. "Wie soll ich denn einen Dienstplan machen, wenn ich nicht weiß, ob meine Mitarbeiter im August noch da sind?"
Auch einen Springerpool kann sich die Diakonie vorstellen, aus dem sich die Einrichtungen bedienen können, zum Beispiel, wenn es kurzfristig Ausfälle gibt. Eine Überarbeitung der Personalschlüssel sei ebenfalls wichtig, heißt es aus der Branche, vor allem aber: weniger Bürokratie, damit sich Pflegefachkräfte wieder voll auf die Pflege konzentrieren können.
Von Mama-Touren und Insellösungen
"Die Mitarbeiter sind ausgepowert, die werden verheizt und suchen sich irgendwann etwas anderes", sagt Christina Walther-Schreiber von der Diakonie Rodenbach. "Das Problem ist, dass die Arbeitsbedingungen wegen der geringen Personaldecke immer schwieriger werden. Ich weiß nicht, wie viele Arbeitszeitmodelle wir in der letzten Zeit erfunden haben: Mama-Touren, nur Spätdienste, nur am Wochenende. Jeder Pflegedienst muss solche Insellösungen finden, um in diesem Wust noch zufrieden zu sein."
Dass sich nichts ändert, dafür sieht Walther-Schreiber aber auch die Pflegekräfte selbst verantwortlich: "Meiner Meinung nach entsteht die Personalnot auch, weil wir so viel jammern. Wir sagen viel zu selten, wie sehr man sich in der Pflege verwirklichen kann. Dabei ist es ein wunderschöner Beruf, man bekommt so viel Wertschätzung zurück."