Archäologischer Überraschungsfund in Gießen Überreste der verbrannten Synagoge entdeckt
Bei Bauarbeiten an der Gießener Kongresshalle wurden überraschend die Grundmauern der 1938 niedergebrannten Synagoge entdeckt. Die Funde gelten als hochbedeutsam und sollen erhalten bleiben - aber wie?
Mitten in Gießen, gegenüber dem Stadttheater und direkt neben dem Rathaus - da hat sie gestanden: die große Synagoge, gebaut um 1867, einst ein Gotteshaus voller Leben mit Platz für 500 Gläubige.
Die Menschen, die hier die Gottesdienste besuchten, waren fest integriert in die Gießener Stadtgesellschaft: Kinder aus jüdischen Schulen, Soldaten aus Gießener Kasernen, Inhaber von Geschäften in der Stadt.
Synagogen bei November-Pogromen niedergebrannt
Wurden in den 1920er-Jahren noch über 1.000 jüdische Menschen in Gießen gezählt, waren es 1938 nur noch 364. Bei den November-Pogromen brannten die Nationalsozialisten schließlich die große Synagoge in der Südanlage und eine zweite kleinere Synagoge in der Gießener Steinstraße nieder.
Geschäfte wurden demoliert und geplündert, die meisten der noch verbliebenen jüdischen Männer wurden ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Wo früher die große Synagoge stand, wurde nach dem Krieg alles mit Erde zugeschüttet - bis jetzt.
Baustelle wird zur Ausgrabungsstätte
Kurz nach dem Krieg wurden provisorische Wohnungen auf dem Grundstück gebaut, 1965 dann die Gießener Kongresshalle. Ein Mahnmal direkt daneben erinnert noch heute an den alten Standort der Synagoge.
Nun soll das funktionale Veranstaltungsgebäude aus massiven Backsteinkuben erweitert werden. Bei den Bauarbeiten wurde überraschend entdeckt: Wo eigentlich das erweiterte Foyer stehen soll, lag unter der Erde noch einiges von der zerstörten Synagoge. Die Baustelle ist damit zu einer Ausgrabungsstätte geworden.
"Uns war natürlich der frühere Standort der Synagoge bekannt und wir hatten auch Unterlagen dazu", erklärt Gießens Stadtarchäologe Björn Keiner. "Das umfassende Fundmaterial hat uns dann aber sehr überrascht."
Laut der historischen Dokumente wurde das Gebäude nicht nur angezündet, sondern auch gesprengt, so Keiner. Zudem sei berichtet worden, dass die Mauerreste damals restlos entfernt wurden. "Dann kamen noch die Bombardierung Gießens und später der Bau der Kongresshalle dazu, sodass wir von großflächigen Planierungsmaßnahmen ausgegangen sind - aber das war offenbar nicht der Fall."
Gut erhaltene Gebäudefundamente
Nach dem Fund hatte die Gießener Stadthallen GmbH im November des vergangenen Jahres zunächst eine spezialisierte Grabungsfirma beauftragt, die in einer Art "Notgrabung" die mit Schutt und Erde verfüllten Räume freilegte.
Die stellte fest: Die Fundamente des Kellergewölbes sind in erstaunlich gutem Zustand. Selbst die Spuren des Feuers von 1938 sind noch teilweise sichtbar, mit dem Boden verschmolzene Eisenstangen und Überreste eines verbrannten Gebetsbuchs mit Ledereinband wurden beispielsweise gefunden.
In Gießen steht man nun vor der Frage: Wie soll man umgehen mit dem historischen Fund und mit dem Gedenken an das, was hier einmal passiert ist? Und was bedeutet das für die Baupläne der Kongresshalle?
Archäologin: "Das haben wir nicht erwartet"
Sandra Sosnowski vom hessischen Landesamt für Denkmalpflege erklärte beim Ortstermin zur Vorstellung der ersten Ausgrabungsfunde: Anhand der gut erhalten Grundmauern könne man sogar die verschiedenen Erweiterungsmaßnahmen am Gebäude im Laufe der Jahre nachvollziehen, zuletzt der Anbau einer Zentralheizung in den 1920er-Jahren. "Nach dem Brand und der Sprengung der Bausubstanz haben wir das nicht erwartet."
Aus Sicht der Archäologie sei außerdem besonders, dass es sich mit dem Denkmal aus dem 20. Jahrhundert um ein recht junges Gebäude handelt: "So etwas ist für uns sehr selten", so Sosnowski. "Und es ist auch ein sensibles und manchmal unbequemes Denkmal - aber für unsere Geschichte hochbedeutend."
Auch Gießens Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher (SPD) erklärte, dass es sich um einen sehr wichtigen Fund handle. "Wir stehen hier Jahr für Jahr zum Gedenken in der Reichspogromnacht an dem Mahnmal und jetzt hat sich sozusagen die Erde noch mal aufgetan und wir gucken auf das, was Anlass für dieses Gedenken ist."
"Emotionaler Moment"
Bedeutend ist der Fund auch für die heutige jüdische Gemeinde in Gießen. Der Vorsitzende Dow Aviv sagte gegenüber dem hr: "Als ich zum ersten Mal gehört habe, dass Reste von der alten Synagoge hier freigelegt wurden, war das so für mich ein sehr emotionaler Moment."
Er sei überrascht gewesen und habe sich gefreut, dass man mit diesem Fund wieder an das jüdische Leben vor dem Krieg erinnern könne, an die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und die Katastrophe, die dem jüdischen Volk widerfahren sei. "Und auch für mich persönlich ist das sehr bewegend, meine eigene Familie besteht ja auch aus Shoah-Überlebenden", so Aviv.
Jüdischen Gemeinde: Weitere Flächen freilegen
Aus Sicht der jüdischen Gemeinde sollen die Grundmauern als Mahnmal bestehen bleiben. "Ich hoffe sehr, dass wir die Stadt noch überzeugen können, dass noch weitere Flächen freigelegt werden", sagt Aviv.
Schließlich sei nach den jetzigen Ergebnissen erst die Mitte von diesem gesamten Gebäude ausgegraben worden. In Richtung Stadttheater könne man noch mehr Fläche freilegen, ohne die Kongresshalle zu beschädigen oder ein anderes Risiko einzugehen.
Fundamente erhalten - aber wie?
Sowohl Denkmalpflegeamt, Stadt Gießen als die jüdische Gemeinde sind sich bisher einig: Man will die Fundamente zum Gedenken und als Teil der Stadtgeschichte erhalten.
Wie genau das aussehen soll – das ist allerdings noch offen. Denn fest steht auch: Die Stadt will die Kongresshalle nach wie vor erweitern. Und verkomplizierend kommt hinzu, dass sowohl die Kongresshalle selbst als auch die Grünanlage um sie herum unter Denkmalschutz stehen.
Unklar ist derzeit vor allem, ob und wie die Fundamente in den Erweiterungsbau integriert werden können. Denkbare Varianten wären beispielsweise, durch eine Glasplatte auf die Ruine herabschauen zu können oder die Halle so auszubauen, dass die Fundamente begehbar sind. Oberbürgermeister Becher kann sich außerdem vorstellen, die zerstörten Kellerräume durch ein 3D-Modell visualisieren zu lassen. Auch die verbrannten Bücher könnten zumindest teilweise einen Eindruck vom Geschehen in dieser Nacht vermitteln.
Bericht der Grabungsfirma erwartet
"Die Grabungsfirma muss jetzt einen Bericht vorlegen", erklärt Sandra Sosnowski vom Hessischen Landesamt für Denkmalpflege. Auf der Grundlage aller Erkenntnisse wolle man dann abwägen und Kompromisse suchen – mit dem Ziel, die Erweiterung der Kongresshalle weiter zu ermöglichen und gleichzeitig die Bausubstanz des Baudenkmals so zu erhalten, wie sie jetzt vorgefunden wurde.
Bis dafür ein konkretes Konzept steht und mit allen Beteiligten abgestimmt ist, kann es allerdings noch einige Monate dauern.
Sendung: hr2, 21.02.2023, 17.45 Uhr
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