Abstand vom russischen Angriffskrieg Ukrainische Kinder machen Urlaub vom Krieg im Lahn-Dill-Kreis
Die evangelische Gemeinde in Dietzhölztal-Ewersbach hat mehr als 40 Kinder aus der Ukraine eingeladen. Eine Woche lang wollen sie "wieder in der friedlichen Welt leben, die uns gestohlen wurde".
Zwei Mädchen verstecken sich in einem Kletterhaus und essen ein Eis. Ein junges Paar zieht sich für einen Kuss in eine Ecke zurück. Zehn andere Kinder sind nicht zu übersehen: Sie spielen Volleyball.
46 Kinder und Jugendliche aus der ukrainischen Stadt Mariupol haben sich auf einem Hofgut in Breitscheid (Lahn-Dill) ausgetobt. Die Zehn- bis 15-Jährigen haben Spaß, sie machen Urlaub, so wie andere in ihrem Alter auch. Was aber nicht gleich zu sehen ist: Sie sind traumatisiert. Jede und jeder von ihnen hat im russischen Angriffskrieg auf ihr Land mindestens ein Familienmitglied verloren.
Eine Woche Auszeit
Die evangelische Gemeinde in Dietzhölztal-Ewersbach hat die Kinder und Jugendlichen nach Hessen eingeladen, zusammen mit der Allianz-Mission. Eine Woche lang wohnen sie bei Gastfamilien im Lahn-Dill-Kreis. In dieser Zeit sollen sie den Krieg so weit wie möglich hinter sich lassen.
"Wir wollen, dass sie Sicherheit, Geborgenheit, Annahme und Liebe erleben - und ein Stück weit ihr Trauma verarbeiten", sagt Albert Giesbrecht. Er hat die Aktion organisiert und spricht Ukrainisch und Russisch fließend. Giesbrecht versucht, in dieser Woche mit den ukrainischen Kindern ins Gespräch zu kommen.
"Niemand von ihnen erzählt, was sie erlebt haben in Mariupol. Das ist ein verschlossenes Kapitel", berichtet Giesbrecht. Das sei normal, weil die Kinder in Gebieten lebten, wo täglich vor Raketenangriffen gewarnt werde. Diese Woche in Hessen soll ihnen etwas mehr Mut geben, darüber zu sprechen, das ist die Hoffnung des Gemeindevertreters.
Ukrainischer Pfarrer als Kinderpsychologe
Begleitet und betreut werden die Kinder von Askold Kvyatkovskiy. Er ist Pfarrer in der Ukraine. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 ist er aber vor allem als Kinderpsychologe gefragt: Die jüngeren Jugendlichen nehmen ihn in den Arm. Die älteren fragen ihn um Rat.
Das hat seinen Grund: Der 52-Jährige ist derjenige, der die Kinder vor zwei Jahren aus der ukrainischen Stadt Mariupol befreit hat. Er betreut sie heute noch - im mehr als 350 Kilometer von ihrer Heimatstadt entfernten Dnipro. "Alles, was sie erlebt haben, führt dazu, dass sie verschlossen sind", sagt Kvyatkovskiy. Deswegen seien das für ihn keine einfachen Kinder mehr, sondern "erwachsene Kinder".
Vor zwei Jahren, in den ersten Monaten des Krieges, wurde die Hafenstadt Mariupol eingekesselt und angegriffen. Mittendrin war auch Kvyatkovskiy. Als erstes habe er sich selbst und seine Familie retten wollen, erzählt er. Mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Tochter sei er zunächst in einem Bunker untergekommen.
Kvyatkovskiy erzählt weiter, er habe auf dem Weg zum Schutzraum überall Asche und Leichen gesehen. Und im Bunker selbst hunderte Menschen, vor allem Kinder, die "auf den Tod gewartet" hätten. Da habe er sich entschlossen, so viele wie möglich aus der Stadt zu holen. "Das eine ist, sich selbst zu retten. Das andere ist, am nächsten Tag - obwohl du vielleicht getötet wirst - zurückzukehren in diese eingekesselte Stadt", blickt der Pfarrer zurück.
Siebenmal sei er zurückgekommen und habe dabei hunderte Menschen aus der Stadt geholt. Nicht einer von ihnen sei verletzt worden. Das sei ein Wunder, sagt Kvyatkovskiy: "Es beweist, dass Gott entgegenkommt, wenn wir bereit sind, mehr zu machen, als wir für möglich halten und dabei auf Gott vertrauen."
Kindheit wieder erwecken
Zwei Jahre später ist Kvyatkovskiy dankbar für die Unterstützung durch deutsche Partner. Von dieser Woche im Lahn-Dill-Kreis erhofft er sich für die Kinder die Chance auf einen Neustart. Es ist die erste Aktion in Hessen, für den Pfarrer aber mittlerweile die achte Reise dieser Art. "Wenn ich hier erlebe, dass wieder die Kindheit geweckt wird in den Kindern, dann ist das für mich das größte Glück", sagt er.
Drei Tage hat allein die Busfahrt aus der Ukraine gedauert. In der Zeit haben sich die Zehn- bis 15-Jährigen untereinander angefreundet. Bei ihrer Ankunft am Dienstag seien die Kinder trotzdem angespannt gewesen, berichtet Albert Giesbrecht. Erst bei ihrem ersten Ausflug, zum Begegnungshof in Breitscheid, habe sich eine vertrauensvolle Atmosphäre entwickelt.
Ukrainische Geflüchtete unterstützen
Giesbrecht hofft, dass die Kinder auch in den Gastfamilien etwas offener werden. Ein Vorteil sei, dass alle dieselbe Sprache sprechen. Die meisten Kinder und Jugendlichen wohnen bei Familien, die aus der Ukraine flüchteten und nun im Lahn-Dill-Kreis leben. Die übrigen Gastfamilien sind Russlanddeutsche, die mehrsprachig aufgewachsen sind - so wie Giesbrecht selbst.
Für die Aktion sammelt die evangelische Gemeinde in Dietzhölztal-Ewersbach noch Spenden. Möglich ist der Besuch der jungen Ukrainerinnen und Ukrainer ohnehin nur dank ehrenamtlicher Hilfe. Dass sich überhaupt so viele Gastfamilien und Helfer meldeten, zeigt laut Giesbrecht, was für eine ukrainische Gemeinschaft sich in den vergangenen Jahren im Lahn-Dill-Kreis bildete.
Einige von ihnen packen auch bei den Ausflügen mit an, obwohl sie gerade nicht die Möglichkeit haben, eines der Gastkinder aufzunehmen. So wie die Familie Bernets am Mittwoch: Die Eltern kümmern sich in Breitscheid ums Essen, der jüngere Sohn gibt Tipps beim Fußballgolf und der ältere Sohn, Maksym, macht Erinnerungsfotos und hilft bei technischen Fragen.
Für den 18-Jährigen ist das selbstverständlich, wie er sagt: "Für die anderen ist das eine besonders schwierige Situation. Deswegen freuen wir uns, wenn wir ihnen helfen und ein bisschen Freude geben können."
Im Freibad auf andere Gedanken kommen
Neben Fußballgolf und Volleyball in Breitscheid stehen ein Besuch in einem Freibad in Siegen und im Kletterwald in Gießen auf dem Plan. Am Wochenende folgt ein Abschlussfest mit Picknick in Ewersbach, also eine Art Gemeindefest.
"Die Kombination aus Gesprächen und Sport ist besonders wichtig, damit die Kinder ausgelassen und entspannter werden", sagt Giesbrecht. Er hofft, dass die Woche in Hessen bei den traumatisierten Kindern und Jugendlichen mentale Blockaden auflöst. "Weil die Kinder aus ihrer Stadt mal herauskommen und positive Gefühle erfahren können."
Die Therapie geht in der Ukraine weiter
Es sei nur eine Woche, aber sie könne viel bewirken, findet auch Kvyatkovskiy: "Wir haben das Gefühl, als würden wir aus dem Krieg herausgehen. Wir sind wieder in der friedlichen Welt, die uns gestohlen wurde." Wenn jeder diejenigen unterstützen würde, denen es schlechter gehe, dann könnten alle gemeinsam sehr viel erreichen.
Die Kinder fahren am Sonntag zurück in die Ukraine, wo sie weiter von Kvyatkovskiy betreut werden. Und sie geben dem 52-Jährigen wiederum viel zurück, wie er sagt: "Jedes Mal, wenn ein Kind mit mir über seine Probleme spricht, kann ich auch meine eigenen Erlebnisse etwas besser verarbeiten." Nur mit Gesprächen könne man das, was sich zum Beispiel in Mariupol an schrecklichen Eindrücken und Traumata angestaut habe, überwinden, ist der Pfarrer überzeugt.
Auf die Frage, was sein Land in der Zukunft erwarte, antwortet Kvyatkovskiy mit einem Wort: "Tragödie." Er meint damit einerseits, dass der Krieg noch andauert. Andererseits aber auch das Trauma, das jeder Einzelne mit sich herumträgt. Dieses zu bewältigen, sei die schwerste Aufgabe für die Menschen in der Ukraine.