Virologe Stürmer über Ende der Corona-Isolationspflicht "Ich glaube, dass wir zu früh dran sind"
Wer sich mit Corona infiziert, muss sich nicht mehr isolieren - so plant es die Landesregierung. Ein verfrühter Schritt, urteilt der Frankfurter Virologe Martin Stürmer im Interview. Er geht davon aus, dass die Infektionszahlen bald wieder steigen werden.
Die Corona-Herbstwelle scheint gebrochen, immer mehr Menschen sind geimpft oder genesen. Vor diesem Hintergrund hat die Landesregierung am Freitag das Ende der Isolationspflicht für Infizierte angekündigt.
Gesundheitsminister Kai Klose (Grüne) bezeichnete den Schritt als "verantwortbar und geboten" - auch weil es in der Regel kaum noch schwere Krankheitsverläufe gebe. Die Landesärztekammer begrüßte den Vorstoß. Der Frankfurter Virologe Martin Stürmer dagegen hält ihn für verfrüht, wie er im Interview erklärt.
hessenschau.de: Herr Stürmer, die hessische Landesregierung hat am Freitag angekündigt, die Isolationspflicht für Infizierte aufzuheben. Halten Sie als Virologe diese Entscheidung für vertretbar?
Martin Stürmer: Das große Problem ist ja, dass man meiner Meinung nach vor der Herbstwelle zu viel auf einmal gelockert hat. Das war ein Fehler. Nachdem wir zwei Jahre lang sehr restriktiv Infektionswellen aller Atemwegserkrankungen unterdrückt haben, haben wir im Moment so gut wie keine Gegenmaßnahmen mehr. Daher war abzusehen, dass wir da Krankheitswellen abbekommen werden - unabhängig von Corona.
Das Ergebnis sehr wir jetzt: Sehr viele Personalausfälle in allen Bereichen. Das versucht man jetzt wohl zu kompensieren. Man sagt sich: SARS-COV 2 ist ja inzwischen harmlos genug, dass wir es uns leisten können, hier zur Normalität zurückzukehren.
hessenschau.de: So eine Rückkehr zur Normalität sollte ja eigentlich auch das Ziel sein.
Stürmer: Ich glaube, dass wir da noch zu früh dran sind. Einfach weil wir noch nicht in der endemischen Phase sind. Wir wissen über Covid immer noch zu wenig. Die Zahlen fallen, wir sind durchimmunisiert, wir haben den Impfstoff und wir haben die Medikamente - aber das reicht noch nicht. Wir wissen zum Beispiel noch nicht genug über Long Covid. Da sind wir noch lange nicht auf einem Level des alltäglichen Risikos. Da haben wir eine Verantwortung, noch etwas restriktiver zu sein.
Außerdem kennen wir die Virus-Evolution noch nicht im Detail. Wir haben bislang Glück gehabt, dass alle Omikron-Ableger klinisch harmlos geblieben sind. Aber es lässt sich beileibe nicht ausschließen, dass irgendwann doch noch eine Variante kommt, die klinisch relevanter sein wird.
Das alles sind für mich Gründe zu sagen: Wir haben die Verantwortung, zumindest noch in diesem Herbst und Winter etwas restriktiver zu sein und darauf zu achten, dass wir das Infektionsgeschehen so niedrig wie möglich halten.
hessenschau.de: Jetzt sind die Infektionszahlen aber schon seit Wochen rückläufig. Eine Überlastung auf den Intensivstationen ist auch nicht eingetreten. Dabei hatten alle Angst vor der nächsten großen Herbstwelle.
Stürmer: Die Herbstwelle ist ja auch gekommen. Die Zahlen sind deutlich angestiegen und zwar relativ schnell. Zudem bin ich mir sehr sicher, dass die offizellen Zahlen das reale Infektionsgeschehen nicht wiedergeben. Das liegt schon daran, dass die Testverordnung größtenteils aufgehoben wurde. Wir haben heute deutlich weniger Testungen als vor einem Jahr. Das muss man sehen.
Aber eine Herbstwelle hat es gegeben. In ihr waren, wie schon im Sommer, die BA.5-Varianten dominant. Dagegen gibt es schon eine breite Immunität. Dann war das Wetter sehr warm, dann kamen die Herbstferien - das wird alles dazu beigetragen haben, dass die Welle schnell abgeebbt ist. Aber ich bin mir sicher, dass die nächste Welle kommen wird.
hessenschau.de: Und wann genau rechnen Sie mit dieser nächsten Welle?
Stürmer: Ich denke schon in ein paar Wochen, Anfang Dezember vielleicht. Heute startet die Faschingssaison, da finden wieder sehr viel mehr Aktivitäten in Innenräumen statt. Die Tage werden wieder deutlich kälter. Auch das treibt die Leute nach drinnen. Weihnachtsmärkte, Feiern - allerspätestens im Januar werden die Zahlen wieder nach oben gehen, wenn nicht schon früher.
hessenschau.de: In einem früheren Gespräch mit dem hr hatten Sie erklärt, dass Sie die Viertimpfung nicht für alle für sinnvoll halten. Hat sich an dieser Einschätzung angesichts der aktuellen Lage etwas geändert?
Stürmer: Wir diskutieren ja gerade viel über die corona- und grippebedingten Arbeitsausfälle. Das sind natürlich Entwicklungen, denen man mit angepassten Impfstoffen entgegenwirken kann. Dass der angepasste Impfstoff nicht zu 100 Prozent Infektionen vermeidet, ist inzwischen jedem klar.
Aber auch die neuesten Daten von Biontech zeigen, dass wir damit eine hohe Zahl an Infektionen vermeiden können. Damit können wir die Welle abflachen. Daher würde ich allen Menschen, für die der Impfstoff zugelassen ist und bei denen die letzte Impfung oder Infektion sechs Monate zurückliegt, eine vierte Impfung empfehlen.
Das Gespräch führte Danijel Majic.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 11.11.2022, 19.30 Uhr
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