Wachsender Antisemitismus Angst überschattet Gedenken an Reichspogromnacht vor 85 Jahren
Am 9. November 1938 wurden in Hessen und ganz Deutschland Synagogen angezündet, jüdische Menschen angegriffen und ihre Häuser und Geschäfte zerstört. 85 Jahre später ist der Gedenktag für Juden und Jüdinnen auch wegen des Kriegs in Israel und Gaza brisant wie lange nicht mehr.
Auch in Hessen wurden am 9. November 1938 Jüdinnen und Juden misshandelt, verschleppt, einige von ihnen ermordet. Die Pogrome waren der Auftakt der systematischen Vertreibung und Unterdrückung, der Anfang des Holocaust. Jedes Jahr wird deshalb an diesem Tag der vielen Opfer gedacht.
Vier Juden und Jüdinnen erzählen, wie sie den Gedenktag in diesem Jahr wahrnehmen, gut einen Monat nach dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel und dem Wiederaufflammen des Nahost-Konflikts.
Zeitzeugin Eva-Maria Schulz-Jander: "Nie gedacht, dass man sich am 9. November wieder fürchten muss"
Eva Maria Schulz-Jander wurde 1935 geboren und wuchs in Oberschlesien als Kind eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter auf. Mit drei Jahren erlebte sie die Reichspogromnacht in ihrem Kinderzimmer. "Es ist eine meiner frühesten Erinnerungen. Es war abends, ich war im Bett und plötzlich hörte ich laute Stimmen, Hunde bellen, Menschen auf der Straße. Dann hörte ich, wie Glas zerbrach, dann ist auch die Fensterscheibe im Schlafzimmer zerbrochen, es kam Kälte rein." Die Eltern hätten versucht, sie zu beruhigen.
Schulz-Jander wohnt seit den 1990er-Jahren in Kassel und engagiert sich dort lange in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. "Ich habe lange gedacht, gut dass wir in einer soliden Demokratie leben, in der wir an die Pogrome erinnern können. Ich habe mich immer gefreut, dass in Kassel so eine breite Zivilgesellschaft diese Erinnerung mitträgt."
Dieses Jahr sei ihr Gefühl erstmals nicht positiv. "Seit dem 7. Oktober ist alles irgendwie anders. Die Stimmung ist aufgeheizt und emotional. Ich hätte nie gedacht, dass man sich wieder fürchten muss, am 9. November."
Student Daniel Navon: "Wir verstecken die jüdische Identität"
Auch an hessischen Universitäten macht sich Angst bemerkbar. "Jüdische Studierende haben auch vorher oft ihre Identität versteckt, jetzt ist es aber viel deutlicher", sagt Daniel Navon, Vorstandsmitglied des Verbands Jüdischer Studierender Hessen (VJSH). Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober sei das Sicherheitsgefühl tief zerrüttet.
Der 24-Jährige erlebt diese Angst auch in seinem Umfeld. "Man sieht es bei Social Media. Allein weil sie einen jüdischen Namen oder Davidstern haben, werden Freunde und Kommilitonen mit volksverhetzenden Äußerungen angeschrieben. Man wird eingeschüchtert."
Der 9. November habe auch für Juden und Jüdinnen in seinem Alter noch große Bedeutung – genau wie die Solidarität der nicht-jüdischen Bevölkerung. "Es ist ein starkes Symbol für die jüdische Community, dass man gedenkt. Aber es ist nicht ausreichend, wenn es nur an diesem Tag geschieht und es am nächsten Tag wieder zu antisemitischen Demonstrationen kommt."
Verbandspräsident Alon Meyer: "Ich erwarte, dass wir alle aufstehen"
Alon Meyer kommt aus Frankfurt, ist Präsident von Makkabi Deutschland und der Meinung, dass der Jahrestag der Reichspogromnacht in diesem Jahr wichtiger ist denn je. "Gedenktage wie der 9. November schienen immer so weit weg. Nun sind sie sehr nah. Wir dürfen keine leeren Sonntagsreden mehr halten." Man müsse junge Leute besser ansprechen und ihnen verdeutlichen, warum das Gedenken wichtig sei.
Er sei am 7. Oktober schockiert gewesen, "dann kam Wut dazu, als die Taten der Hamas hier auf unseren deutschen Straßen zum Teil bejubelt wurden." Für ihn sei das eine Zäsur. "Wir erleben gerade, dass Menschen voller Hass gegen Juden hier schreien, rufen und zu Taten aufrufen. Das geht nicht nur gegen Juden, das geht gegen den Wertekanon von uns allen."
Er erwarte deshalb auch von der deutschen Zivilbevölkerung mehr Unterstützung. "Wenn wir eines aus unserer Vergangenheit gelernt haben, dann sicherlich, dass die Mehrheit vieles stillschweigend akzeptiert hat."
Micky Fuhrmann: "Wir haben vor vier Wochen ein Pogrom erlebt"
An die Pogrome des 9. November 1938 wird auch in der jüdischen Gemeinde gedacht, in der sich Micky Fuhrmann engagiert. "Es gibt Halt, weil man gemeinsam gedenkt. Es ist auch emotional, weil jeder an seine Vorfahren denkt."
Auch und gerade in der aktuellen Situation sei die Gemeinde für viele ein Rückzugsort. "Wir haben vor vier Wochen ein Pogrom in Israel erlebt, viele bangen um Freunde und Familie. Das spielt sicher eine Rolle, wenn man jetzt der Opfer der Shoah gedenkt."
Viele würden sich die Frage stellen, wie sich der Antisemitismus bis heute habe halten können. "Wir haben es mit dem Aufkommen bestimmter rechter Kräfte, mit einer Relativierung der Shoah und mit Geschichtsrevisionismus zu tun. Und wir beobachten viel Unkenntnis, gerade was junge Leute betrifft." Ihr sei wichtig zu betonen, dass die Geschehnisse des 9. Novembers 1938 und des 7. Oktobers 2023 nicht eine jüdische Angelegenheit, sondern eines jeden Menschen seien: "Das müssen wir bewusster machen."
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 09.11.2023, 19.30 Uhr
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