"Wahnsinnig belastend" Seenotretter ziehen totes Kleinkind aus dem Meer - auch seine Geschwister sterben
Die Crew des aus Darmstadt koordinierten Rettungsschiffs "Sea Punk One" erlebte am Wochenende ihren bisher schwersten Einsatz: Während 17 Menschen in einem dramatischen Einsatz aus dem Mittelmeer gerettet werden, verlieren drei Geschwisterkinder ihr Leben.
Für den zweijährigen Jungen kommt die Hilfe zu spät. Wenige Minuten nachdem das Kind etwa 200 Kilometer südwestlich von Malta aus dem Mittelmeer gerettet wurde, stirbt es an Deck der "Sea Punk One". Neben ihm liegt die Leiche seines Bruders. Den Dreijährigen hatten die Rettungskräfte schon zuvor tot aus dem Wasser gezogen.
Die Schreie und das Wehklagen der verzweifelten Mutter sind an Bord nicht zu überhören. Die 34-jährige Frau verlor auch ihren einjährigen Sohn. Er verschwand in den Wellen, bevor die Retter eintrafen.
So etwas haben Lucas Maier und die 13 anderen Crewmitglieder des deutschen Seenotrettungsschiffs noch nicht erlebt. "Das war der worst case", beschreibt Maier den Einsatz am vergangenen Sonntag im Gespräch mit dem hr - schlimmer war es noch nie.
Einsätze werden von Darmstadt aus koordiniert
Seit zwei Jahren rettet die "Sea Punk One" Menschen aus dem Mittelmeer. Koordiniert werden die Einsätze von Hessen aus. Vor rund fünf Jahren gründete der Darmstädter Gerson Reschke zusammen mit seinen Brüdern den Verein Sea Punks. Sie kauften ein altes Vermessungsschiff aus Polen und bauten es in Eigenregie zu einem Rettungsschiff um.
Die ersten Einsätze ist Reschke noch mitgefahren, aktuell steuert er die Arbeit des Vereins von Darmstadt aus. Was am Sonntag passiert ist, übertreffe alles bislang Erlebte, erklärt der 40-Jährige dem hr. "Wir hatten noch nie tote Menschen an Bord. Dass es Kinder sind, macht es noch schlimmer."
17 Menschenleben gerettet
Die Geflüchteten waren mit einem kleinen Plastikboot unterwegs, das wegen eines Motorschadens und des schlechten Wetters kenterte und sank. An Bord befanden sich insgesamt vier Kinder: die drei Brüder, die ihr Leben verloren, und ein viertes Kind, das überlebte. Schon während der Fahrt seien mehrere Menschen ertrunken, erzählen Überlebende. Insgesamt rettete die Crew der "Sea Punk One" 17 Menschen das Leben.
Die Schiffsbrüchigen stammen aus Nigeria und Kamerun. Die gemischte Gruppe aus Frauen, Männern und Kindern startete in Libyen mit einem Schleuserschiff, in dem Plastikboot wollten sie auf ihrer letzten Etappe Europa erreichen. Die Überlebenden, darunter die Mutter der toten Kinder und ihr Mann, brachten die Retter zusammen mit den Leichen der Kinder nach Lampedusa und übergaben sie der italienischen Küstenwache.
"Sie kämpften um ihr Leben"
Es war fast windstill, das Meer ganz ruhig, beschreibt Maier die Minuten vor dem Rettungseinsatz. Gegen halb sieben am Morgen ging der 30-Jährige mit einem Fernglas an Deck und suchte in der Dämmerung die Wasseroberfläche ab. Dann entdeckte er die Menschen. "Sie kämpften um ihr Leben und klammerten sich an alles, was noch schwimmen konnte."
Die Crew schickte sofort das Beiboot raus, warf Rettungswesten und aufblasbare Schwimmhilfen ins Wasser, an denen sich die Schiffsbrüchigen festhalten konnten. "Wir haben so viele Menschen wie möglich ins Boot gezogen und an Bord gebracht", sagt Maier.
Ein Knochenjob für die ganze Crew. "Bei unterkühlten Menschen spannt sich der ganze Körper an, sie können sich kaum noch bewegen", erklärt der freie Journalist, der auch schon einmal für den Hessischen Rundfunk gearbeitet hat. Man brauche mindestens zwei Menschen, um eine Person zu bewegen.
Die Crew habe aber funktioniert wie ein Uhrwerk, jeder und jede hätte gewusst, was zu tun sei. Einer der Geretteten hatte Wasser in der Lunge und schon Schaum vor dem Mund, er wurde zusammen mit einer Hochschwangeren mit einem angeforderten Hubschrauber abtransportiert. "Man ist so fokussiert, dass man das Gefühl für Raum und Zeit komplett verliert", sagt Maier. Wie lange der Einsatz dauerte, weiß er nicht mehr.
"Freude und Schrecken dicht beieinander"
Was bleibt, sind Erschöpfung und Gefühlschaos. Auf der einen Seite sei da die Freude über die vielen geretteten Leben. Dann komme ihm aber das Bild der weinenden Mutter in den Kopf, die gerade ihre Kinder verloren hat. "Freude und Schrecken saßen hier an Bord ganz dicht beieinander", beschreibt Maier seine Emotionen nach dem Einsatz.
Die Crew habe noch lange nach dem Ende des Einsatzes über das Erlebte gesprochen. "Keinem ging es wirklich gut, es war einfach wahnsinnig belastend", so Maier. Auf solche Fälle ist Sea Punks aber vorbereitet. Es gebe eine Nummer, die die Crew noch von Bord aus kontaktieren kann, sagt Vereinsvorstand Reschke: "Wir haben auch Leute, die sich an Land sofort um die seelische Gesundheit der Crew kümmern."
Direkt der nächste Einsatz
Wirklich Durchschnaufen konnte die Crew aber nicht. Schon am Montagabend hatte die "Sea Punk One" ihren nächsten Rettungseinsatz. Insgesamt 56 Menschen holte die Besatzung von einem doppelstöckigen Holzboot, wie der Verein auf Instagram schreibt. Knapp zwei Tage war das vollbesetzte Schiff dann bis zu dem Hafen unterwegs, den die Seenotrettung in Rom zugewiesen hatte.
Trotz des dramatischen Vorfalls vom Sonntag und der auch sonst widrigen Umstände wollen Maier und Reschke weitermachen. Sie sind Überzeugungstäter. Er wolle helfen, die Welt ein bisschen besser zu machen, beschreibt Maier seine Motivation. Wenn Menschen fliehen, haben sie in seinen Augen einen triftigen Grund. "Menschen sollen gut und frei leben können", sagt er.
"...dann würde Merz nie wieder so reden"
"Jetzt erst recht", denkt sich auch Reschke, der neben seiner Tätigkeit bei Sea Punks als Cutter arbeitet. Die toten Kinder seien trauriger Ausdruck für die Notwendigkeit von Seenotrettung. Dass die Themen Flucht und Migration in seinen Augen derzeit von großen Teilen der Politik instrumentalisiert werden und sich die gesellschaftliche Stimmung dadurch immer weiter aufheizt, macht Reschke wütend. "Hier verrecken Leute und die Politik gibt ihnen auch noch die Schuld an unseren Problemen."
Auch Maier schüttelt bei diesem Thema nur den Kopf. Dass etwa CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz die Abweisung Schutzsuchender an deutschen Grenzen fordert, mache ihm Angst. "Merz sollte einmal einen Tag erleben, wie ich ihn am Sonntag erlebt habe. Er würde nie wieder so reden."
2.824 Tote im vergangenen Jahr
Es sind tatsächlich erschreckende Zahlen, die das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) nennt: Knapp 200.000 Menschen überquerten 2024 das Mittelmeer in Richtung Europa. Dabei kamen 2.824 Personen ums Leben, wie ein UNHCR-Sprecher auf hr-Anfrage mitteilte. Im Vorjahr starben sogar 4.110 Menschen.
Zuletzt sei die Seenotrettung laut UNHCR "von staatlicher Seite stark eingeschränkt" worden. Missionen wie "Mare Nostrum" aus Italien oder die EU-Nachfolgeoperationen "Triton" und "Sophia" konzentrierten sich zunehmend auf die Bekämpfung von Schleppern und illegaler Migration.
Neben den Sea Punks gibt es weitere private Rettungsorganisationen wie beispielsweise die Ärzte ohne Grenzen, Sea Watch oder andere. Diese versuchten, entstandene Lücken in der Rettung von Menschen in Seenot zu stopfen. "Die UNHCR begrüßt den Einsatz von NGOs im Mittelmeer", teilte der Sprecher mit. NGO ist die Abkürzung für "Non-governmental Organization", also "nichtstaatliche Organisation".
Sea Punks auf Spenden angeweisen
Damit die "Sea Punk One" auch künftig auslaufen und Menschen retten kann, benötigt der Verein nach eigenen Angaben mehrere hunderttausend Euro pro Jahr. "Wir finanzieren uns ausschließlich durch private Spenden", sagt Reschke. Staatliche Förderung bekomme der Verein aktuell nicht. Jeder Cent fließe ausschließlich in die Seenorettung. Von den Spenden würden Schiff, Crew und Material bezahlt, der Hauptteil der Arbeit im Verein werde ehrenamtlich geleistet.
In der Vergangenheit hatte Sea Punks auch prominente Unterstützung beim Spendensammeln, unter anderem von Bela B., dem Schlagzeuger der Punkband "Die Ärzte". Der hat eine klare Meinung zur Seenotrettung: "Unterlassene Hilfeleistung ist Mord - und ich will kein Mörder sein."