Marburger Uni-Klinikum Ukrainischer Kriegsverletzter wartet seit Monaten auf Reha-Platz
Rund 30 ukrainische Kriegsverletzte wurden bisher in Hessen behandelt - viel weniger als anfangs erwartet. Einer von ihnen erzählt seine Geschichte. Und warum er seit drei Monaten vergeblich auf einen Platz in der Reha-Klinik hofft.
Die Mine ist schon vor fünf Monaten in die Luft geflogen. Den tiefen Krater, den sie gerissen hat, trägt der ukrainische Soldat Evgenij Sushkov aber immer noch jeden Tag bei sich: direkt in seinem Hinterkopf. In seinem Schädel prangt ein Loch von der Größe eines Hühnereis. Inzwischen ist die Wunde wieder von Haut überwachsen, doch die tiefe Einkerbung im Knochen ist immer noch deutlich zu sehen.
Als am 20. Februar Russland in die Ukraine einmarschiert, zögert Sushkov nicht lang: Noch am gleichen Tag meldet sich der 39-Jährige freiwillig zum Militärdienst. Er, der vorher Bauarbeiter war, wird von heute auf morgen ein Kämpfer. Bis zu diesem Tag Mitte Juli.
An den Moment und das, was danach passiert ist, kann sich Sushkov selbst nicht mehr richtig erinnern. Später erzählt ihm seine Mutter: Nachdem die Mine unter seinen Füßen explodiert und ihm Splitter durch Kopf und Bein geschossen sind, bangen Ärzte und Angehörige tagelang um sein Leben.
In einem ukrainischen Krankenhaus wird er notoperiert, schließlich stabilisiert er sich. Was bleibt, sind neurologische Schäden: Wortfindungsschwierigkeiten und Aussetzer, Sushkov ist außerdem halbseitig gelähmt und kann nicht mehr laufen. Dringend bräuchte er eine Spezial-Reha – aber mitten im Kriegsgebiet ist das undenkbar. Deshalb landet er schließlich in Marburg.
Weniger Kriegsverletzte in deutschen Krankenhäusern als erwartet
Zehntausende Menschen wurden in den vergangenen Monaten in der Ukraine getötet oder schwer verletzt, sowohl Soldaten als auch Zivilisten. Trotz Strom- und Wasserausfällen wird auf den ukrainischen Intensivstationen weitergearbeitet. Doch das Gesundheitssystem kommt an seine Grenzen, besonders wenn es um komplexe Verletzungen und langwierige Behandlungen geht. Deutsche Kliniken, darunter auch viele hessische, hatten deshalb schon im Februar ihre Unterstützung bei der Behandlung Kriegsverletzter angekündigt.
Gekommen sind allerdings viel weniger Patienten als ursprünglich erwartet - warum ist bisher unklar. Nach Hessen wurden seit April über ein bundesweites Verteilsystem bisher erst 30 ukrainische Kriegsverletzte gebracht.
Soldat wartet seit drei Monaten auf Reha
Wie die meisten der kriegsverletzten Soldaten und Zivilisten wurde auch Sushkov nicht direkt aus der Ukraine nach Deutschland gebracht, sondern zuerst liegend in einem Bus nach Polen transportiert. Von dort aus wurde er mit einem militärischen Krankentransportflugzeug nach Frankfurt und schließlich per Krankenwagen nach Marburg gebracht. Sein Zuhause ist seitdem die Uniklinik.
Dort werde er sehr gut versorgt, berichtet der 39-Jährige. Er bekommt zum Beispiel intensive Physiotherapie. Doch auch hier ist es offenbar schwerer, eine Reha zu machen, als gedacht. Seit drei Monaten wartet er im Klinikum auf einen Platz in einer Einrichtung. Gemeinsam mit seiner Mutter Tatjana, die ihn nach Marburg begleitet hat, wohnt er derzeit quasi in einem Krankenzimmer – obwohl er längst reif für eine Reha-Klinik ist.
Unfallchirurg: Patienten kommen nicht blutüberströmt in Marburg an
Steffen Ruchholtz leitet in Marburg das Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie, wo bisher vier Kriegsverletzte aus der Ukraine behandelt wurden. Ruchholtz erzählt: "Das waren Patienten mit schweren Verletzungen durch Splitter oder Geschosse, die irgendwo in den Rumpf eingetreten und wieder ausgetreten sind."
Die Patienten würden nicht blutüberströmt in Marburg ankommen, wie manche sich das vielleicht vorstellen, erklärt Ruchholtz. Alle seien in ihrer Heimat bereits professionell erstversorgt worden. Allerdings habe man vor Ort zum Beispiel verletzte Gelenke teilweise nur von außen fixieren können, andere hätten Amputationen, die noch nicht vollständig abgeheilt sind.
In Deutschland gehe es vor allem um endgültige Wundheilung, künstliche Gelenke oder Prothesen. "Und die meisten haben einen hohen Bedarf an Rehabilitationsmaßnahmen", so Ruchholtz. Doch genau das zu ermöglichen, ist für ihn und sein Team derzeit eine frustrierende und langwierige Aufgabe. "Im Fall von Evgenij Sushkov haben wir schon 25 Rehaklinken angefragt – und Absagen bekommen."
Warum bekommt Evgenij Sushkov keinen Reha-Platz?
"Zunächst muss die Kostenübernahme geklärt werden", erklärt der Arzt: Erst brauche es dafür eine Anmeldung beim Jobcenter, dann eine Kostenzusage von der neu zugewiesenen Krankenkasse. Im Fall von Evgenij Sushkov habe allein das rund zwei Monate gedauert. "Und jetzt müssen wir eine Reha-Klinik finden, die momentan überhaupt die Kapazitäten hat, so einen Patienten zu versorgen."
Das Problem: Aufgrund der Pflegesituation seien viele Kliniken derzeit am Limit, das gelte auch für Reha-Einrichtungen. Der Soldat brauche wegen seiner schweren Gehirnverletzung zudem eine spezielle neurologische Reha. Und auch die Unterbringung seiner Mutter als Begleitperson müsse geklärt werden, so Ruchholtz.
Der Unfallchirurg weiß nicht, ob die Schwierigkeiten mit Sushkovs Status als Ukrainer zu tun haben oder mit der Kostenübernahme, aber er sagt klar: Normalerweise dauere es bei Patienten mit ähnlich schweren Schädel-Hirn-Traumata nicht so lange. "Zwei Anfragen laufen derzeit noch", sagt er. "Wenn das auch nichts wird, suchen wir weiter."
Soldat: Will wieder auf eigenen Füßen stehen
Evgenij Sushkov und seine Mutter sind dankbar für die medizinische Versorgung und Betreuung, die sie seit drei Monaten im Uniklinikum erhalten. Obwohl sie kein Wort Deutsch und nur wenig Englisch sprechen, haben sie auf Station schon Freunde gefunden, erzählen sie, darunter ein Pfleger, der Russisch spricht. Trotzdem sei das Warten schwer, jede Absage eine Enttäuschung.
Aber immerhin: Dank der Physiotherapie im Krankenhaus hat Sushkov schon erste Fortschritte gemacht. Er kann inzwischen wieder einige Schritte laufen, seine Mutter Tatjana hilft ihm dabei. Die zierliche Frau zieht ihren erwachsenen Sohn aus dem Stuhl hoch und greift ihm kräftig unter die Arme. "Er schafft es schon bis zum Haupteingang des Krankenhauses", sagt sie stolz. Sein großer Traum: Irgendwann nicht nur hier raus, sondern wieder ganz nach Hause zu können – und zwar auf seinen eigenen zwei Beinen. Ein Kämpfer, trotz allem.
Sendung: hr-iNFO, 8.12.22, 13.20 Uhr
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