Berichte über häufige Angriffe Warum Zahlen zu queerfeindlicher Gewalt nicht das ganze Problem zeigen
In der Kriminalstatistik liegen die Zahlen queerfeindlicher Gewalt in Hessen im niedrigen zweistelligen Bereich. Viele queere Personen wollen allerdings nach einem Angriff keine Anzeige erstatten.
Um ein Problem zu erfassen und zu verstehen, wird gerne auf Statistiken geschaut: Wie groß ist der Hass gegen queere Personen, wie oft werden sie Opfer von Gewalttaten?
Queerfeindliche Taten landen in der Statistik zu politisch motivierter Hasskriminalität. Bedarf an solchen Zahlen gibt es: Nach Auskunft des hessischen Landeskriminalamts (LKA) gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Anfragen zu dem Thema aus Parlamenten, von Medien und aus der Wissenschaft. Nur: Ist die Statistik überhaupt aussagekräftig?
Zwiespalt für die Polizei
Die Zahl der Fälle queerfeindlicher Gewalt stieg in Hessen in den vergangenen Jahren - auf niedrigem Niveau. Im Jahr 2022 wurden 53 registriert, 2021 waren es 34, davor waren die Zahlen noch niedriger. Die Polizei geht von einer höheren Dunkelziffer aus - etwa, weil Taten gar nicht erst angezeigt würden.
Die Frage ist weniger, welche Fälle in der Statistik landen - sondern, welche nicht und warum. Denn im Fall von queerfeindlicher Gewalt gibt es besonders viele Hürden: für Betroffene, aber auch für die Polizei.
Intimes geht die Polizei nichts an
Die Rolle der Polizei ist eigentlich klar: Sie müssen feststellen, ob eine Person angegriffen wurde, weil sie queer ist oder als queer wahrgenommen wurde vom Täter. Aber schon die Befragung des Opfers bringt in diesen Fällen Schwierigkeiten, weil Beamte und Beamtinnen niemanden diskriminieren dürfen.
"Als Polizeibeamtin bin ich nicht ermächtigt, einfach nachzufragen, was die sexuelle Orientierung ist", sagt Vanessa Ruth, die LSBT*IQ-Beauftragte des Polizeipräsidiums Nordhessen: "Jede Person darf selbst entscheiden, was sie von sich preisgibt und ob sie zu diesem intimen Lebensbereich Auskunft geben möchte."
Ob jemand schwul, lesbisch, trans oder intersexuell ist, geht den Staat nichts an. Es steht der Polizei auch nicht zu, Betroffene gegen ihren Willen zu outen. Es bleibt nur der Weg, dass Betroffene sich öffnen.
Vergewaltigung aus Queerfeindlichkeit?
In Kassel stand die Polizei im Oktober vor diesem Problem: Ein Mann, der Frauenkleider trug, wurde im Nordstadtpark von einem Mann vergewaltigt. Mit dieser Information ging die Polizei an die Öffentlichkeit. Das Opfer hatte sich gegenüber der Polizei nicht äußern wollen zur eigenen sexuellen Orientierung oder Identität.
Die Polizei musste abwägen und entschied, dass der Hinweis auf die Frauenkleider wichtig sei, in der Hoffnung, dass Zeugen sich erinnern können, berichtet die Sprecherin der Polizei, Ulrike Schaake. Die Polizei in Kassel zog auch die LSBT*IQ-Beauftragte Ruth hinzu, aber auch ihr gegenüber wollte der Betroffene sich nicht öffnen. Der Täter wurde nicht gefunden, der Fall landete nicht in der Kriminalstatistik zur Hasskriminalität von 2022. Der Fall wurde zwar registriert, aber nicht als queerfeindlich.
"Gewalt ist Alltag"
Aus Sicht der Betroffenen sagt die Statistik zur Hasskriminalität wenig aus: "Das Hauptproblem mit so offiziell erhobenen Zahlen ist, dass sie nie alle Realitäten abbilden - weil Menschen sich nicht melden, sich nicht trauen oder nicht die Kapazitäten haben, Anzeige zu erstatten", sagt Susanne Umscheid vom LSBT*IQ-Netzwerk in Nordhessen. Umscheid ist selbst queer und betreut neben dem Job noch ehrenamtlich eine queere Jugendgruppe in Kassel.
Die Realität sei ganz anders, als es die Statistik nahelege, sagt Umscheid: Die meisten queeren Personen hätten schon verbale, psychische oder körperliche Gewalt erlebt. Das sei ihre Erfahrung, so Umscheid: "Die Gewalt ist so sehr Alltag, man würde gar nicht auf die Idee kommen, das alles anzuzeigen."
Je sichtbarer, desto mehr Gewalt
"Je sichtbarer ist, dass eine Person queer ist, desto mehr rechnen die Personen damit, dass ihnen Gewalt widerfährt", sagt Umscheid. In der Öffentlichkeit treffe es besonders Trans-Personen, die als "anders" wahrgenommen werden - bei ihnen sei oft nicht die Frage, ob sie Gewalt erleben, sondern wann und wie, sagt Umscheid. Bei queeren Veranstaltungen wie dem Christopher Street Day (CSD) rechne die Community schon vorher mit Angriffen.
Für viele in der queeren Community sei der Weg zur Polizei allerdings keine Option, sagt Umscheid. Dafür gebe es eine Reihe von Gründen: etwa die Befürchtung, nicht ernst genommen zu werden, oder die Sorge, dass innerhalb der Polizei die gleichen Vorurteile herrschten wie in der restlichen Bevölkerung. Zudem gibt es laut Umscheid schlechte Erfahrungen innerhalb der Community im Umgang mit der Polizei.
Umscheid gibt auch zu bedenken, dass die Polizei geltendes Recht umsetze. Dieses sei in der Vergangenheit queerfeindlich gewesen und sei es teilweise bis heute. Manche in der Community seien schon von verdachtsunabhängigen Kontrollen betroffen gewesen, sagt Umscheid - wegen negativer Stereotypen oder ihrer Hautfarbe oder weil sie der illegalen Sexarbeit verdächtigt wurden. Da entstehe Misstrauen.
Eine Brücke zur Community
Sich der Polizei zu öffnen, ohne zu wissen, wer vor einem sitzt, sei eine große Hürde, sagt Umscheid. Auch LSBT*IQ-Beauftragte der Polizei würden in der Community dabei in erster Linie als Polizistinnen wahrgenommen.
Mit den Beauftragten versucht die Polizei, eine Brücke zur Community zu bauen und langfristig solche Bedenken auszuräumen. Queere Betroffene von Gewalt, die Angst oder Bedenken im Umgang mit der Polizei haben, können sich vorab an die LSBT*IQ-Beauftragten in den Polizeipräsidien wenden.
Was brauchen Betroffene?
Umscheid sagt, dass sie niemandem generell zu einer Anzeige rate, sondern mit Betroffenen von Gewalt alle möglichen Optionen mit Vor- und Nachteilen bespreche. "Habe ich die Zeit, habe ich das Geld, glaube ich, dass es mir wirklich hilft, eine Anzeige zu stellen? Hilft mir ein Prozess, Dinge zu bearbeiten oder nicht?", nennt Umscheid typische Überlegungen. Manchmal könnten auch eine Beratung, psychologische Hilfe und Unterstützung aus der Community helfen.
Umscheid plädiert zusätzlich für unabhängige Meldestellen, an die sich Betroffene wenden können. Es gehe darum, mehr über das Phänomen der Gewalt herauszufinden. So könne man erfahren, wo man mehr hinschauen und aufklären muss.
Die Kriminalstatistik könne nur ein Startpunkt sein, findet Umscheid. Davon ausgehend müsse gefragt werden: "Wen betrifft es noch, wer meldet sich nicht bei uns?"
In Frankfurt arbeiten Polizei und Community zusammen
In Frankfurt hat die LSBT*IQ-Community angefangen, Angriffe auf die queere Community im Szeneviertel nahe der Konstablerwache selbst zu dokumentieren für eine inoffizielle Statistik. Die Zahlen seien etwa doppelt so hoch wie die offiziellen Zahlen, sagt Georgios Kazilas vom Lesben- und Schwulenverband.
Die inoffizielle Statistik soll auch helfen, im Gespräch mit Stadt und Polizei das tatsächliche Ausmaß besser einschätzen zu können. Nachdem die Zahl der Angriffe in der Innenstadt zugenommen hat, gibt es in Frankfurt mittlerweile den Versuch, dass sich Community, Polizei, Staatsanwaltschaft und Stadt zusammensetzen, um Konzepte zum Schutz vor Übergriffen und zu erarbeiten. Kazilas ist Teil der Arbeitsgruppe Sicherheit und Schutz.
Die Initiative entstand aus der Not heraus: Viele trauten sich nicht mehr, alleine nach Hause zu laufen, erzählt Kazilas, aus Angst attackiert zu werden. "Wir haben uns frei gefühlt im Viertel", sagt Kazilas. Das sei vorbei, seit es immer mehr Belästigungen und Attacken gebe.
Meldestellen in anderen Bundesländern
Gleichzeitig machten Betroffene immer wieder schlechte Erfahrungen mit der Polizei, sagt Kazilas, etwa weil Beamte sich weigerten, eine Anzeige aufzunehmen, oder Betroffenen eine Mitschuld unterstellt werde.
Die Stadt und der Polizeipräsident nähmen die Angriffe ernst, sagt Kazilas, das zeige die neue Zusammenarbeit. In Hessen gebe es aber noch viel zu tun in Sachen Sensibilisierung und Aufklärung in der Polizei. In anderen Bundesländern gebe es bereits Internetseiten vom Land, wo Betroffene Übergriffe melden können, berichtet Kazilas.
Berlin habe da eine Vorreiterrolle, die queere Community sei groß. Es werde aber von öffentlichen Stellen auch mehr getan, sagt Kazilas. Die Fallzahlen von queerfeindlicher Gewalt in Berlin haben sich seit 2014 verfünffacht - was auch zeigt, dass mehr Menschen Anzeigen stellen. Im vergangenen Jahr wurden über 400 Straftaten gemeldet - achtmal so viele wie in Hessen.