Nazi-Parolen auf Abschlussfeiern Was Schulen gegen zunehmende rechtsextremistische Vorfälle tun können

Hakenkreuze, Hitlergrüße, Nazi-Parolen: Die Zahl rechtsextremistischer Vorfälle an Schulen in Hessen ist erneut deutlich gestiegen. Woher kommt der Hass? Wie können Lehrkräfte darauf reagieren?

Unscharf sind Personen zu erkennen, die sich durch einen Flur der Kopernikusschule Freigericht bewegen.
Flure der Kopernikusschule Freigericht. Bild © picture-alliance/dpa (Archiv)

Für die Jugendlichen waren es kurz vor den Sommerferien die letzten Wochen Schule überhaupt: Wie üblich feierten die Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen in passender Verkleidung zu ihren Mottotagen auf dem Schulhof der Kopernikusschule in Freigericht (Main-Kinzig).

Dazu lief laute Musik: "L'amour toujours", der rund 20 Jahre alte Partyhit, der spätestens seit dem viral gegangenen Video von Sylt als rechtsextreme Hass-Hymne bekannt ist.

Wie viele Personen die rechtsextremen Parolen dazu mitsangen, kann Schulleiter Ulrich Mayer im Nachhinein nicht mehr genau sagen, er selbst sei erst später dazu gekommen. "Zeugen sprechen von 20 bis 40", sagt er. "Das ist schon sehr viel und lässt Rückschlüsse auf die Haltung der vor allem Schüler, aber auch Schülerinnen zu."

Rektor: "Starke Gefährdung des Schulfriedens"

In der Folge sei es zur Auseinandersetzung mit anderen Schülerinnen und Schülern gekommen. "Es hat richtig gefunkt", erzählt Mayer. Und dennoch: In der zweiten Pause an diesem Tag wird er noch mal gerufen. Wieder dasselbe Lied, diesmal eine kleinere Gruppe.

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Mayer bezeichnet die beiden Vorfälle an dem Tag als "unglaublichen Rückschlag" für seine Schule, die sich als Europaschule unter anderem in Demokratie-Projekten und mit Anti-Mobbing-Aktionen für ein demokratisches Schulleben einsetze.

Auch weil rund ein Drittel ihrer Schülerinnen und Schüler einen ausländischen Pass habe oder aus Familien komme, in der andere Herkunftssprachen als Deutsch gesprochen werden, interpretiere er die Gesänge "als eine starke Gefährdung des Schulfriedens", sagt Mayer.

2024 jede Woche mehrere Fälle in Hessen

Der Fall an der Kopernikusschule scheint besonders heftig zu sein angesichts der Größe der beteiligten Schülergruppe. Aber nicht erst seit dem viral gegangenen Sylt-Video werden in Hessen ähnliche Vorfälle bekannt, etwa im Februar an einer Schule im Lahn-Dill-Kreis oder Ende Juni am Wilhelmsgymnasium Kassel - wegen derselben rechtsextremen Parolen zur Partymusik.

Die Fälle sind nur einige Beispiele der insgesamt 87 rechtsextremen Vorfällen an hessischen Schulen, die seit Jahresbeginn beim Kultusministerium erfasst wurden (Stand 23. Juli), wie es auf hr-Anfrage mitteilte. Schon 2023 hatte sich die Zahl der gemeldeten Fälle mit 35 gegenüber dem Vorjahr verdreifacht.

Ulrich Mayer steht an einem Geländer auf einem Flur der Kopernikusschule Freigericht.
Ulrich Mayer ist Schulleiter der Kopernikusschule Freigericht. Bild © picture-alliance/dpa (Archiv)

Einen deutlichen Anteil daran haben laut dem Ministerium die Gesänge zu "L'amour toujours", genauso wie Hasspostings. Noch häufiger sei es um Hakenkreuz-Schmierereien, das Zeigen des Hitlergrußes oder das Rufen von Nazi-Parolen gegangen, teilte das Kultusministerium mit.

Rechtsextremismus an Schulen

Extremistische Vorfälle müssen laut Hessischem Kultusministerium grundsätzlich dem Schulamt gemeldet werden, da es sich um "wichtige Vorkommnisse im Sinne der Dienstordnung" handle. Ziel sei es, jedem Einzelfall angemessen und konsequent nachzugehen. Auch die Polizei informiere das Ministerium über extremistische Vorfälle, die in Verbindung zu Schulen stehen.

Mögliche pädagogische Maßnahmen in solchen Fällen reichen laut dem Kultusministerium von einfachen Gesprächen über den Ausschluss von einzelnen Unterrichts-, Klassen- oder Schulveranstaltungen bis hin zu einem Schulverweis. Im Einzelfall müsse nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abgewogen werden.

Wenn es zu polizeilichen Ermittlungen kommt, kann extremistisches Verhalten auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Im Fall von Freigericht laufen aktuell noch die Ermittlungen, die laut der Polizei inzwischen bei der Staatsanwaltschaft liegen.

Sind rechtsextreme Haltungen unter jungen Menschen tatsächlich so viel stärker verbreitet als noch vor ein paar Jahren? Oder sind die Zahlen auf ein gesteigertes Bewusstsein bei Lehrkräften und Schulleitungen zurückzuführen, solche Vorfälle als rechtsextrem zu benennen und zu ahnden?

Woher der Anstieg kommt

"Ich denke, dass beides zutrifft", sagt Manuel Glittenberg von der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe) in Hessen. Die DeGeDe berät unter anderem Schulen zum Umgang mit Antisemitismus und Rassismus.

Durch die aktuellen Ergebnisse bei Europa- und Hessenwahlen habe sich eine gesellschaftspolitische Atmosphäre gezeigt, "in der Menschen, die ein prinzipiell antidemokratisches Bild haben, Rückenwind verspüren, dass sie sich rassistisch, antisemitisch oder auf eine andere Art diskriminierend äußern können", sagt Glittenberg.

Gleichzeitig sei in den vergangenen Jahren die Problemwahrnehmung für rechtsextreme Bedrohungen gewachsen - nicht zuletzt nach den Anschlägen in Hanau und Halle.

Rechtsextremismus sogar an Grundschulen

Während Glittenberg und sein Team Schulen auch präventiv begleiten, liegt der Fokus der Arbeit von Torsten Niebling von der Beratungsstelle Rote Linie in Marburg vor allem bei der Intervention, wenn es schon zu rechtsextremen Vorfällen gekommen ist.

"Diese Vorfälle gab es an Schulen schon immer. Aber etwa seit 2018 erleben wir hier einen deutlichen Anstieg, der mit der gesellschaftlichen Entwicklung korrespondiert", sagt Niebling. Vereinzelt gebe es nun sogar Fälle an Grundschulen. "Das hatten wir sonst nie."

"Das Klima ist anders geworden, was Toleranz angeht"

Uwe Petersen, der das Wilhelmsgymnasium in Kassel leitet, auf dessen Fluren vor den Sommerferien dieselben Parolen gesungen wurden wie in Freigericht, macht dafür auch die Corona-Pandemie mitverantwortlich. Während die Kinder und Jugendlichen lange nur zu Hause waren, sei der Diskurs in der gesamten Gesellschaft enger geworden.

In den vergangenen Monaten und Jahren habe er feststellen müssen: "Das Klima ist bei uns anders geworden, was Toleranz angeht." Das macht Petersen neben dem aktuellen Vorfall daran fest, dass mehrfach Pride-Flaggen abgerissen worden seien, die man an der Schule aufgehängt hatte.

Manchmal sei es jedoch schwierig zu unterscheiden, ob Grenzen einfach aus jugendlicher "Lust an Provokation" überschritten würden - oder tatsächlich ein rechtsextremes Weltbild zugrunde liege, räumt Petersen ein: "Vermutlich ist es eine komplexe Mischung."

Jugendliche Lust an Provokation oder Überzeugung?

Im Bezug auf die Gesänge während der Mottowoche an der Kopernikusschule in Freigericht habe sicher auch bewusste Provokation eine Rolle gespielt, sagt Schulleiter Mayer. Gleichzeitig wisse er, dass es an seiner Schule Jugendliche gebe, die völkisches Denken guthießen und dies auch im Unterricht zeigten.

"Dann stehen Lehrerinnen oder Lehrer, die so eine Diskussion im Unterricht mitbekommen, schon vor der Frage: Wie geht man denn jetzt vor?", sagt Mayer.

Berater: Raum für Diskussionen schaffen ...

Torsten Niebling setzt sich in seiner Arbeit mit dieser Frage immer wieder auseinander. Er betreut unter anderem Jugendliche, die durch rechtsextremes Verhalten straffällig wurden und als auferlegte Maßnahme zur Beratungsstelle Rote Linie kommen.

Wichtig sei hier zu vermitteln: "Wir sind nicht einverstanden mit dem, was Sie sagen und denken, aber wir sind an Ihrer Person interessiert, wir sind nicht gegen Sie." Auch im Kontext der Schule helfe es, die Jugendlichen ernst zu nehmen in dem, was sie sagten, meint Niebling.

"Was Lehrkräften oft schwerfällt, ist, das dann in den Unterricht einzubauen", sagt Niebling: "Weil es oft als Störung wahrgenommen wird." Daher sei es notwendig, Diskussionen zu ermöglichen, in denen die Jugendlichen äußern könnten, was sie beschäftige. Und zwar nicht erst dann, wenn schon rechtsextreme Verhaltensweisen gezeigt wurden, sondern im besten Fall präventiv.

... und Alltagsrassismus in den Blick nehmen

In der Praxis bedeutet das aus Sicht des Soziologen Manuel Glittenberg, dass die Schwelle, ab der Pädagoginnen und Pädagogen tätig werden sollten, nicht erst bei eskalierten Situationen wie beispielsweise Hakenkreuzen und Hitlergrüßen ansetzen solle. Auch die Lehrkräfte müssten die Wahrnehmung für Alltagsrassismus schärfen.

"Wir empfehlen, dass man möglichst niedrigschwellig interveniert", sagt Glittenberg. So könne man "Gewöhnungseffekte" vermeiden und als pädagogisch verantwortliche Person klarstellen: "Es ist meine Aufgabe, dass sich hier alle sicher und wohlfühlen."

Man müsse darauf schauen, was entsprechende Aussagen oder Taten potenziell für von Rassismus betroffene Mitschülerinnen und -schüler bedeuten könnten. Schulen seien dann gefordert, klar deutlich zu machen: "Wir sind für alle da, und niemand muss Angst haben, dass wir bedrohliche oder verletzende Wirkungen von Rassismus nicht ernstnehmen oder versuchen unter den Tisch zu kehren."

Wie es an der Kopernikusschule weitergeht

Eine klare Position haben die Lehrkräfte an der Kopernikusschule in Freigericht unmittelbar nach den Vorfällen bezogen: Am 5. Juli veröffentlichten sie eine gemeinsame Erklärung auf der Schul-Homepage. Jedem einzelnen Fall von respektlosem, rassistischem oder in anderer Weise diskriminierendem Verhalten werde man nachgehen, hieß es darin unter anderem.

"Es sind alle Kolleginnen und Kollegen darauf eingestellt, dass diesem Thema ganz viel Aufmerksamkeit gegeben werden muss", sagt Schulleiter Mayer. Wie bereits in den vergangenen drei Jahren werde es damit bereits am ersten Schultag nach den Ferien losgehen: in Form eines Projekttags zu sozialem Lernen.

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Quelle: hessenschau.de