Wie Bagatell-Einsätze Sanitätern Zeit für Notfälle rauben "Wir sind nicht dafür da, Leute zum Arzt zu fahren"
Zu wenige Kollegen, lange Schichten und kaum Pausen: Die Belastung von Sanitätern ist hoch. Was das Problem verschärft, ist die große Zahl an unnötigen Notrufen. Viele Patienten wären ein Fall für den Hausarzt.
Mit Martinshorn und Blaulicht schlängelt sich der Rettungswagen durch Frankfurt, zwischen Autos, Lastwagen und Baustellen hindurch, so schnell es im Berufsverkehr eben geht. Notfallsanitäter Johannes Mildenberger und Azubi Marc Rumpf sind auf dem Weg in die Innenstadt zu einem potentiellen Notfall. In einem Schnellrestaurant soll ein Mann an heftigen Kreislaufproblemen leiden. "Das kann alles sein – von einem einfachen Kreislaufkollaps wegen Stress bis hin zum Herzinfarkt", erklärt Mildenberger. "Deswegen schauen wir, dass wir möglichst schnell zum Einsatzort kommen."
Doch dort angekommen stellt sich rasch heraus: Die Eile wäre nicht nötig gewesen. Einem Mann ist übel, und das nicht erst seit heute, wie er den Sanitätern erzählt. Ein Fall für den Hausarzt. Doch der wohnsitzlose Patient will das nicht einsehen und fordert, in eine Praxis gebracht zu werden. "Wir sind nicht dafür da, um Leute zum Arzt zu fahren - wir sind für Notfälle da", stellt Mildenberger freundlich, aber bestimmt klar. In diesem speziellen Fall hat er sogar ein wenig Verständnis. "Man darf die Menschen nicht vorverurteilen, er hat kein Geld und kann nicht einfach irgendwo hinfahren."
Der Melder piepst: Rettungswagen aktuell knapp
Hinfahren, den Patienten untersuchen, den Papierkram erledigen: Eine dreiviertel Stunde bindet dieser Einsatz die beiden jungen Sanitäter der Johanniter-Unfall-Hilfe - unnötigerweise. "Aber das lässt sich am Ende immer nur bewerten, wenn wir wirklich hinfahren", sagt Mildenberger. "Das ist das Problem, das sorgt auch für die hohe Auslastung: Man weiß es eben vorher nicht." Am Telefon bleibe der Leitstelle kaum Zeit für eine lange Anamnese, außerdem dramatisiere manch ein Patient die Lage, sagt Mildenberger. Aus Bequemlichkeit oder weil so schnell kein Termin beim Arzt zu bekommen sei.
Noch während sie den Fall dokumentieren, piepst der Melder in Mildenbergers Hosentasche. "Jetzt informiert uns die Leitstelle, dass es ein erhöhtes Einsatzaufkommen in der Stadt gibt." Das sei der klassische Fall, sagt der 25-Jährige: "Wir stehen bei einem für uns nicht indizierten Einsatz und rund herum gibt es aktuell keine oder nicht ausreichend Rettungswagen." Für die beiden bedeutet das: Beeilung, damit sie schnell wieder einsatzfähig sind - für mögliche echte Notfälle.
168.000 Einsätze allein in Frankfurt
Der Notfallsanitäter, seine Kolleginnen und Kollegen bekommen die hohe Arbeitsbelastung täglich zu spüren. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Rettungsdienst-Einsätze in Frankfurt gestiegen. Das beobachtet auch die zuständige Abteilung Rettungsdienstträger bei der Frankfurter Feuerwehr. Abschließende Zahlen für 2022 liegen noch nicht vor, aber laut vorläufiger Schätzung sind die Retter im vergangenen Jahr rund 168.000 Mal ausgerückt. Das entspricht einer Steigerung von 15 Prozent gegenüber 2021.
Erst Mitte Februar warnte das Deutsche Rote Kreuz (DRK) in Frankfurt: Die Kapazitäten für eine schnelle Versorgung in lebensbedrohlichen Fällen sind in Gefahr, sollte es nicht gelingen, die Einsatzzahlen zu reduzieren. Der Rettungsdienst sei vor allem durch Bagatelleinsätze "an der Überlastungsgrenze", mahnte das DRK schon im Herbst.
Auch hessenweit zeigt sich ein Anstieg der Einsatzzahlen. Lagen sie 2012 noch bei rund 918.000, waren es 2017 laut Sozialministerium mehr als 1.155.000. Abschließende Zahlen für 2022 gibt es noch nicht, doch bis Oktober wurden bereits knapp 1.087.000 Einsätze gezählt.
Mehr Ältere – mehr Einsätze
Der Einsatz im Schnellrestaurant ist für das Team bereits der zweite an diesem Tag, der um 6.30 Uhr begonnen hat und erst nach zwölf Stunden enden wird. Der erste Alarm erreichte sie direkt am Morgen, auch dieser ein typischer: Ein Mann ist in seiner Wohnung gestürzt. Wie schlimm die Verletzungen sind, kann in solchen Fällen erst die Untersuchung vor Ort zeigen. Manchmal stelle sich auch heraus, dass der Sturz schon einige Tage her ist und die Person auch selbständig zum Hausarzt gehen könne, so Mildenberger.
Doch in diesem Fall war es anders. Der 80-Jährige konnte allein nicht mehr aufstehen, ist außerdem dement. Nachbarn hatten den Rettungsdienst alarmiert. Beim Abtasten konnte der Notfallsanitäter keine schlimmen Verletzungen feststellen. "Wir können es vor Ort aber nicht gänzlich ausschließen, deswegen lassen wir es in einer Klinik abklären", entschied Mildenberger.
Auch der demografische Wandel treibt die Einsatzzahlen nach oben. Immer häufiger versorgen sie Ältere, die oft eher ein Fall für den häuslichen Pflegedienst wären. "Wir haben ganz viele Menschen, die kein wirklicher medizinischer Notfall sind, aber selbstständig nicht in eine Versorgungseinrichtung kommen", erklärt Mildenberger. "Dann kann sich auch eine Bagatell-Erkrankung natürlich zu einem medizinischen Notfall entwickeln."
Fünf Minuten Mittagspause
Erst um 14.30 Uhr, nach acht Stunden Arbeit, ist an diesem Tag Zeit für eine kurze Pause in der Rettungswache. Mildenberger und Rumpf sind bisher zu vier Einsätzen ausgerückt, drei davon waren wirklich ein Fall für den Rettungsdienst. Neben dem gestürzten Senior mussten sie einen Mann mit Atemnot und Übelkeit ins Krankenhaus bringen. Auch zwei Säuglinge kamen vorsichtshalber in eine Kinderklinik. Mit der Milch im Fläschchen hatten sie laut den Eltern kleine Mengen Entkalker getrunken. Doch die Bilanz der Sanitäter wird bis zum Abend ganz anders aussehen.
Ein Biss ins Brötchen, dann kommt schon die nächste Alarmierung. In Frankfurt ist die Situation an diesem Freitag besonders angespannt: Drei der 35 Rettungswagen fallen aus, weil die Kollegen krank sind. Ersatz gibt es nicht - mehr Arbeit für Mildenberger und Rumpf. Der Frankfurter Rettungsdienst ist personell am Limit.
In Großstädten und Ballungsgebieten ist die Belastung besonders groß. Mittlerweile gebe es schon Auszubildende, die danach sofort abspringen, sagt Mildenberger: "Weil sie schon in der Ausbildung feststellen, dass es kein Beruf ist, den man wirklich lange ausüben kann." Er selbst ist seit acht Jahren dabei und macht es trotz der steigenden Belastung gern, wie er sagt. Weil er helfen kann, eigenverantwortlich arbeitet und nie weiß, was ihn in seiner Arbeitszeit erwartet. Dafür nimmt er auch Zwölf-Stunden-Schichten in Kauf, viermal die Woche.
Hunderte Stellen offen
In einer Befragung der Gewerkschaft Verdi unter bundesweit 7.000 Beschäftigten bei Rettungsdiensten zeigte sich vor einem Jahr, dass 84 Prozent nicht davon ausgehen, dass sie ihre Arbeit bis zum Rentenalter schaffen werden. Überstunden, verkürzte Pausen und gestrichene freie Tage zählen laut der Befragung ebenso zum Arbeitsalltag von Rettungskräften wie gewalttätige Übergriffe durch Patienten oder Angehörige.
Auch hessenweit besteht ein Personalmangel, bestätigt das Sozialministerium. Zahlen aus dem Oktober vergangenen Jahren zeigen: 5.565 Vollzeitstellen im Rettungswesen sind besetzt, weitere 137 Rettungs- und 340 Notfallsanitäter werden dringend gebraucht.
Schmerzen, Übelkeit, Schwindel
Die Fahrt, wegen der sie ihre Pause nach fünf Minuten abbrechen müssen, können sie ohne Blaulicht antreten. Eine Frau klagt über Schmerzen und Übelkeit. Im Gespräch stellt sich heraus: Sie ist offenbar einen Tag zuvor angegriffen worden, war danach aber weder beim Hausarzt noch im Krankenhaus. Was genau ihr fehlt, kann Mildenberger vor Ort nicht feststellen, blaue Flecken und Blutungen findet er auf den ersten Blick nicht. Um sicherzugehen, bringen sie die Frau ins Krankenhaus.
Auch die letzten beiden Einsätze für diesen Tag sind keine Notfälle, und doch typisch für den Alltag der Retter. Eine Seniorin in einem Altenheim klagt über Rückenschmerzen, vermutlich hat sie ihre Schmerztabletten nicht genommen.
Vor dem Feierabend werden sie noch zu einer älteren Frau gerufen, die alleine lebt und beim Anruf der 112 über Schwindel geklagt hat. EKG, Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Blutzucker – alles sieht gut aus, stellt Mildenberger nach wenigen Minuten fest. Ihr sei auch nur kurz schwindelig gewesen, sagt sie, nicht mal richtig schwarz vor Augen. "Ich bin auch nicht gefallen, ich saß hier am Tisch." Ins Krankenhaus will sie sowieso nicht.
Bilanz: Vier von sieben Einsätzen keine Notfälle
Die Bilanz nach zwölf Stunden: Von sieben Einsätzen waren vier keine Notfälle. Doch sie haben genauso viel Zeit gekostet wie die ernsten Fälle. Sauer ist er wegen der hohen Zahl an vermeidbaren Einsätzen nicht, obwohl sie zusätzlichen Stress bedeuten, sagt Mildenberger. Frustriert sei er aber manchmal schon.
Die Schuld sieht er nur zum Teil bei den Patientinnen und Patienten. "Der Servicegedanke ist schon da, aber das System ist total ausnutzbar: Rufe ich an, wird es bedient, weil die Disponenten in der Notruf-Leitstelle auch nicht feststellen können, ob es wirklich ein Notfall ist oder nicht." Das System müsse mit den wachsenden Aufgaben mitwachsen, wünscht er sich.
Einen kleinen Lichtblick könnte es geben: Eine Expertenkommission hat Mitte Februar Refomvorschläge vorgelegt, um Rettungsdienste und auch Notaufnahmen bundesweit zu entlasten. Wer den Notruf oder die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdiensts wählt, soll demnach bei einer neuen Leitstelle landen. Medizinische Fachkräfte sollen die Patienten an die geeignete Stelle vermitteln - sei es der Rettungsdienst oder eben doch der Hausarzt.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 27.2.2023, 19.30 Uhr
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