Hochhaussiedlungen und ihr schlechter Ruf "Es kommt vor, dass wir Jobs nicht bekommen, weil wir hier wohnen"
Von den rund 12.000 Menschen in Darmstadt-Kranichstein lebt knapp die Hälfte in einer Hochhaussiedlung. "Sozialer Brennpunkt" - "Ghetto" - diese Begriffe fallen immer wieder. Dabei tut sich im Stadtteil einiges. Viele Bewohner fühlen sich zu Unrecht stigmatisiert.
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Wer zum ersten Mal nach Darmstadt-Kranichstein fährt, dürfte von den großen Betonbauten zumindest ein bisschen beeindruckt sein. Ende der 60er-Jahre wurden die Wohnhochhäuser im Darmstädter Norden gebaut, anfangs galten sie als Prestigeprojekt.
Vom Prestigeprojekt zum Problemviertel
Doch der Siedlung fehlte es unter anderem an einer guten Anbindung, weshalb sie mehr und mehr zu einer Trabantenstadt verkam. In der Folge zogen damals viele wieder weg. Der Stadtteil wurde zu einem Problemviertel. Gewalt und Drogenkriminalität waren an der Tagesordnung, Perspektivlosigkeit ein ständiger Begleiter für viele.
Jahre später hat sich einiges verändert, doch der Ruf bleibt der gleiche. Zwar ist der Anteil an Menschen, die 2021 Arbeitslosengeld II bezogen, mit 24,59 Prozent immer noch sehr hoch. Doch die Zahl sinkt, Jahr um Jahr. Darmstadt-Kranichstein ist zudem Teil eines Förderprogramms für strukturschwache Quartiere, finanziert von Bund und Ländern.
Dadurch wurden in den vergangenen Jahren Begegnungsstätten geschaffen und Integration gefördert. Beispielsweise durch einen Mitmach-Laden, durch Integrationsangebote oder auch durch drei in Kranichstein ansässige Jugendzentren. Viele Bewohner spüren diesen Aufschwung und erzählen davon - hier und in der hr-Reportage 7 Tage ... in der Hochhaussiedlung.
"Wir sind ein Stadtteil wie jeder andere auch"
Farah Busmaa studiert Soziale Arbeit und engagiert sich ehrenamtlich in einem Jugendzentrum in Kranichstein. Sie ist in dem Stadtteil aufgewachsen.
"Für mich ist Kranichstein toll, ich liebe es hier. Hier ist es bunt, jeder kennt jeden und man hält untereinander zusammen. Ich fühle mich hier sogar sicherer, als wenn ich in der Darmstädter Stadtmitte unterwegs bin. Wenn du mich fragen würdest, wo ich als Frau lieber abends unterwegs sein würde, dann würde ich immer sagen: Hier in Kranichstein, statt irgendwo anders. Umso mehr ärgert es mich, wenn andere Menschen uns Bewohner hier vorverurteilen.
Ich studiere in Frankfurt. Es gab schon öfter Situationen, in denen ich gesagt habe, dass ich aus Kranichstein komme. Dann heißt es oft: 'Oh Kranichstein, das ist doch ein Ghetto.' Und dann muss ich immer sagen: 'Nein, Leute, wir sind kein Ghetto. Wir sind ein ganz normaler Stadtteil, wie jeder andere auch.' Auch bei der Jobsuche begegnen wir oft diesen Vorurteilen: Wenn in deinem Lebenslauf steht 'Gruberstraße', dann kommt es schon vor, dass wir Jobs nicht bekommen, weil wir hier wohnen."
Orientierung für Jugendliche durch Musik
Celvin Ofosu betreut in einem Jugendzentrum ein Hiphop-Projekt. Die Jugendlichen können mit seiner Hilfe im Keller der Einrichtung rappen und ihre Musik selbst aufnehmen.
"Natürlich gibt es hier viele, die ihren Weg gegangen sind. Ich kenne Leute, hier aus der Gegend, die Jura studieren und in Rekordzeit ihren Master gemacht haben. Also wirklich Leute, die Perspektive und Zukunft haben und etwas aus sich machen wollen. Aber ich muss sagen, dass es auch noch die andere Seite gibt. Leute, die nicht wirklich einen Plan haben, was sie in den nächsten 15 Jahren machen werden und sich einfach nur denken: 'Wie komme ich an schnelles Geld'.
Dafür ist das Musikprojekt hier im Jugendzentrum da. Dass die Jugendlichen, die bisher noch keine Orientierung haben, einen Zufluchtsort finden. Dass sie von der Straße geholt werden und durch die Musik ein Ventil haben, ihre Schmerzen und Gefühle auszudrücken. Dadurch lernen sie, dass es sich lohnt, auf sein Leben aufzupassen und mehr aus sich zu machen."
"Ich wollte auf keinen Fall nach Kranichstein"
Angelika Schneider wohnt seit 12 Jahren in einem Hochhaus in Kranichstein. Sie schätzt die kulturelle Vielfalt und den Austausch untereinander.
"Wenn in Darmstadt eine Straftat passiert ist, dann heißt es meistens direkt wieder: 'Der Junge kommt aus Kranichstein'. Deshalb haben wir auch schon protestiert. Der Stadtteil wird in den Medien oft sehr schlecht dargestellt. Die Menschen, die hier leben, empfinden das nämlich nicht so. Vor zwölf Jahren bin ich aus einem Dorf hierher gezogen, weil ich mich verändern wollte. Und ich muss sagen: Ich hatte ebenfalls Vorurteile. Für mich war klar: Nach Kranichstein ziehe ich auf keinen Fall. Dann wurde mir eine Wohnung hier angeboten und ich habe sie mir trotzdem mal angeschaut.
Die Wohnung hat mir so gut gefallen, dass ich sie doch genommen habe. Einen Tag vor meinem Umzug ruft eine gute Freundin mich an und sagt mir: 'Bist du verrückt? Zieh’ nicht nach Kranichstein, da wirst du überfallen! Da kannst du abends nicht mehr allein auf die Straße gehen.' Ich habe es doch getan. Und es war die beste Entscheidung, die ich hätte treffen können. Ich habe so viele tolle neue Kulturen und Menschen kennengelernt. Das hätte ich sonst nie gehabt. Es ist wunderbar hier."
"Kranichstein ist kein krimineller Stadtteil"
Sascha Rühl ist in Kranichstein als sogenannter Schutzmann vor Ort tätig. Er ist als Polizist der erste Ansprechpartner für die Bürgerinnen und Bürger und leistet Präventionsarbeit.
"Über den Baustil hier lässt sich sicherlich streiten, aber daran kann man nicht festmachen, dass es hier mehr Kriminalität geben würde. Im Gegenteil. Es sind zwar viele Menschen auf engem Raum - aber es funktioniert, gelebtes Multikulti. Gerade diese Vorurteile zum Stadtteil Kranichstein, aber auch zu vielen anderen Hochhaussiedlungen, lassen sich bei uns so nicht festmachen.
Die Kriminalstatistik zeigt: In Kranichstein passieren nicht mehr Kriminaldelikte, wie beispielsweise in der Stadtmitte. Klar, du wirst auch hier sicherlich dein Haschisch bekommen und es gibt auch hier Streitigkeiten. Aber all das passiert auch in der Stadt. Nur hast du dort eben diese Vorurteile gegenüber den Menschen und dem Stadtteil nicht."
"Kranichstein ist Multikulti und für mich Heimat"
Die Eltern von Ali Mahmood stammen aus Pakistan, er wurde in Deutschland geboren. Seit seinem ersten Lebensjahr wohnt der Student mit seiner Familie in Kranichstein.
"Als junger Mann mit Migrationsgeschichte fragt man sich in Deutschland oft: 'Was für ein Landsmann bin ich eigentlich?' Die Pakistaner zeigen mit dem Finger auf dich und sagen: 'Du bist Deutscher', die Deutschen zeigen auf dich und sagen: 'Du bist Pakistaner'. Da kann man leicht in eine Identitätskrise fallen. Auch bei mir war das so. Aber das Schöne ist, dass die anderen in deinem Alter dich hier verstehen.
Deine Eltern haben das nie mitgemacht, aber wir, die 2. Generation, wir fühlen das untereinander. Und wenn deine Freunde eigentlich genauso aufgewachsen sind, nur mit anderen Kulturen, dann gibt dir das ein Heimatgefühl. Und dafür liebe ich Kranichstein. Ich schaue auf meinen Freundeskreis und jeder von ihnen kommt aus einem anderen Land und bringt eine eigene Kultur ein. Im Endeffekt wie ein Gericht, das mit verschiedenen Gewürzen abgeschmeckt wird und am Ende wundervoll schmeckt. Das ist für mich Kranichstein."
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 26.01.2023, 19.30 Uhr
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