Meinungsvielfalt im Werra-Meißner-Kreis Wie ein leerer Raum in Waldkappel die Demokratie stärken soll
Bei der Landtagswahl in Thüringen hat sich rund ein Drittel der Wählerinnen und Wähler für die dort rechtsextreme AfD entschieden. Wenige Kilometer von der Grenze entfernt arbeiten Menschen in Waldkappel und Eschwege hart für die freie Meinungsäußerung.
Waldkappel gilt unter vielen Einheimischen im Werra-Meißner Kreis als "blaues Städtchen". Fast 25 Prozent der Wahlberechtigten haben sich hier bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr für die Liste der AfD entschieden.
Doch bleiben diese Menschen ein Phantom: Es gibt keinen AfD-Ortsverband. Niemand in der Lokalpolitik positioniert sich öffentlich für die Partei.
Stattdessen ziehen immer mehr junge politisch links orientierte Menschen in den Ort. Sie gründen ein neues alternatives Wohnkonzept, genannt "Fuchsmühle". Die alte Grundschule im Zentrum der Kleinstadt haben die bisher 50 Mitglieder der Bewegung schon für ihr Genossenschaftsprojekt in Beschlag genommen.
Doch irgendwen muss es hier noch geben, der im Juni die Hakenkreuze in die Bibeln der Waldkappeler Kirche geritzt hat.
Urbane Weißweinschorle trifft ländliche Bratwurst
Maximilian Balken macht es Sorgen, dass rund ein Viertel der Waldkappeler ihrer Meinung im Kleinstadtleben keinen Ausdruck mehr verleihen. Denn nur der Austausch ermögliche ein demokratisches Miteinander.
So kam er auf die Idee für sein "Leerstandslabor". Der leere Raum soll den Ort wieder mit Leben füllen.
Lediglich ein altes grünes Sofa, ein paar Stühle und ein Tisch dürfen darin stehen bleiben. "Die Grundidee ist hier, die urbane Weißweinschorle mit der ländlichen Bratwurst zusammenzubringen", sagt Balken über den kleinen holzvertäfelten Raum an der Hauptstraße des Ortes.
Der Sozialpädagoge möchte den Leerstand nutzen, um die gegensätzlich orientiert lebenden Menschen des kleinen Ortes miteinander ins Gespräch zu bringen.
Das "blaue Städtchen" braucht mehr Dialog
Obwohl die Kleinstadt mit dem neuen Publikum immer diverser geworden sei, schläft der Dialog immer mehr ein. Das neue Labor sei quasi ein moderner Ersatz für die wegsterbenden Kneipen und Gaststätten. Es bräuchte mehr direkten Gedankenaustausch, damit er die Meinungen anderer anhören und verstehen könne, erklärt Balken, der sich selbst bei den Grünen engagiert.
Es werden Workshops angeboten und Feste organisiert. Ob der Plan aufgeht, muss sich aber erst noch zeigen. Es erweist sich schon jetzt als schwierig, mit Menschen in Kontakt zu kommen, die gar kein Interesse daran haben.
Viele Möglichkeiten der Meinungsäußerung
In Waldkappel zeigt sich ein größeres gesellschaftliches Phänomen: Viele Menschen kommunizieren zwar über die sozialen Medien, aber kaum noch in ihrer direkten räumlichen Umgebung.
"Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, wie und wo Menschen sich gerade äußern können", sagt Christine Domke, Professorin an der Hochschule Fulda. Sie und ihr Kollege Matthias Klemm forschen seit mehreren Jahren zum Thema "Meinungs- und Redefreiheit".
Gerade digital hätten sich die Möglichkeiten der Meinungsäußerung über die letzten Jahre extrem ausdifferenziert, sagt die Forscherin. Wo Menschen aber real hingehen könnten, um wirklich gut zu streiten, das bleibe oft unklar.
Rechtsextremismus in Waldkappel noch verdeckt
Auf dem Kirchplatz im 4.000-Seelen-Städtchen Waldkappel trifft Maximilian Balken einen anderen engagierten Bürger. Er arbeitet mit ihm im Geschichtsverein zusammen, kennt hier fast jedes Gesicht.
Öffentlich politisch positionieren will sich Balkens Bekannter nicht. Ihm sei auch nicht bekannt, dass im Ort jemand radikal denken würde.
Die Mitte-Studie hat aber schon früher im Jahr gezeigt: Unter der Oberfläche sind rechtsextreme Ansichten weiter verbreitet als viele Menschen denken. Wenn sich niemand äußert, werde es nur eben schwierig überhaupt zu verstehen, was die Menschen umtreibe, sagt Balken.
Große Distanz als Problem für Demokratiearbeit
Das beobachtet auch Katharina Feldmann, die Balken mit der Partnerschaft für Demokratie im Werra-Meißner-Kreis bei seinem Vorhaben unterstützt: "Gerade die große Distanz zwischen den Kommunen ist für uns ein Problem“, sagt sie.
"Denn Demokratiearbeit ist aufsuchende Arbeit." Theoretisch bräuchte die Initiative Abgesandte für jede einzelne der 16 Kommunen.
#AFDnee in Frankfurt
Philipp Jacks hat für das Problem eine kreative Lösung gefunden. Der Gewerkschafter aus Frankfurt rief die Initiative #AFDnee ins Leben. Über sie vertreibt er Plakate, die die Menschen über die politischen Inhalte der AfD ins Gespräch bringen sollen.
Sie können überall aufgehängt werden und zeigen fiktive Menschen in der Zukunft, die sich ärgern, die AfD gewählt zu haben.
Zur Landtagswahl im vergangenen Sommer hingen die Plakate auch im Werra-Meißner-Kreis, genauer in Herleshausen. Aus seiner Sicht fördern die Plakate die Diskussion mehr, als sie zu ersticken. Doch so deutlich und öffentlich Stellung zu beziehen, sei in aufgeheizten Zeiten ein Risiko.
"Einerseits positionieren sich viele Unternehmen inzwischen durchaus politisch", sagt Jacks. "Andererseits haben sie Sorge, dass sie Kunden verlieren könnten oder der Betriebsfrieden gestört wird, wenn sie sich zu konkret gegen die AfD aussprechen."
Gesprächseinladung ohne soziale Konsequenzen
Überhaupt in einen konstruktiven Dialog zu kommen ist schwer. Gerade bei einem Gefühl, seine Meinung nicht mehr frei äußern zu können, seien die Hürden hoch, eine Gesprächseinladung anzunehmen, sagt die Forscherin Christine Domke.
"In einer Einladung müsste stehen: Es darf alles gesagt werden, und es gibt keine sozialen Konsequenzen", sagt Domke. Dieser Rahmen sei radikal gedacht, aber wahrscheinlich hilfreich. Denn genau das fürchteten viele Menschen.
Offene Gespräche im Mehrgenerationenhaus
In der Kreisstadt Eschwege soll das Mehrgenerationenhaus der evangelischen Bildungsstätte einen solchen Rahmen schaffen. Bei einer offenen Runde kommen hier verschiedene Menschen zusammen, die im Alltag gar keinen Kontakt zueinander hätten.
"Gerade Senioren haben hier eine Anlaufstelle, sodass sie sich nicht isolieren müssen“, sagt Ursel Schmidt, die heute das erste Mal gekommen ist. Gemeinsam sprechen sie bei Kaffee und Brötchen über Themen, die sie täglich bewegen.
"Letztens hat mich ein Mann auf der Straße einfach angeschrien", erzählt Ute Fehling. "Dabei wollte ich ihm nur einen Tipp geben, wo er mit seinem Kind besser über die Straße gehen kann."
Meinungen aushalten als Schlüssel zu mehr Demokratie
Die Corona-Pandemie, die Erfolge der AfD, der Anschlag von Solingen, die Situation im Gazastreifen: auch Politisches wird hier diskutiert. Offen und ohne Hierarchien. Hausleiterin Gudrun Lang ist überzeugt: Erst wenn Menschen miteinander ins Gespräch kommen, können sie Vorurteile abbauen.
"Wir versuchen bei Meinungsverschiedenheiten immer im konstruktiven Dialog zu sein, um beim Gegenüber auch etwas anzuregen", sagt Lang. "Und wir halten es aus, Meinungen stehen zu lassen." Nur bei menschenfeindlichen Äußerungen würde das Team vom Hausrecht Gebrauch machen.
Menschen nicht überzeugen, sondern zum Nachdenken anregen
Ob das Mehrgenerationenhaus mit der offenen Runde, Jacks mit seinen Plakaten oder Balken mit seinem Leerstandslabor auch Menschen außerhalb des eigenen Umfeldes erreichen können, das bleibt unklar.
Für Hochschulprofessor Matthias Klemm ist das aber auch nicht die entscheidende Frage: "Die Formulierung 'Wie erreicht man denn bestimmte Menschen?' impliziert schon, dass man die Person auf eine bestimmte Position festlegen will."
Demokratisch sei das nicht, würde es im nächsten Schritt doch eine Umerziehung bedeuten. Die Soziologie habe gezeigt: "Menschen lassen sich nicht gegen ihren Willen umerziehen, sondern erziehen sich nur selbst dazu, um ihre Positionen zu verändern oder andere auszuhalten", sagt Klemm.
Auf diesen Effekt hoffen alle drei Projekte: Sie wollen Gespräche auslösen, zur eigenen Meinungsbildung anregen und damit neue Impulse für ein demokratisches Miteinander schaffen.