Ausschlafen, Snacks und Band statt Orgel-Klänge Wie eine Kirchengemeinde in Fulda gegen den Trend gewachsen ist
Eine evangelische Gemeinde in Fulda trotzt der Kirchen-Krise: Für die vielen Gottesdienst-Besucher musste sogar ein neuer Anbau her. Wie ist dem Pfarrer das gelungen?
Er kann nicht übers Wasser gehen oder Wasser in Wein verwandeln. Aber Stefan Bürger hat mit seiner Kirchengemeinde in Fulda beinahe Wundersames vollbracht. Die evangelische Kreuzkirche im Stadtteil Neuenberg ist unter der Leitung des Pfarrers außergewöhnlich gewachsen, und zwar in doppelter Hinsicht.
Dabei machten die Kirchen in Deutschland zuletzt mit Negativ-Rekorden Schlagzeilen: 2022 traten mit 380.000 aus der evangelischen und 520.000 aus der katholischen Kirche so viele Menschen aus wie nie zuvor. Allein im Bereich der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) - zu der Fulda gehört - waren es zuletzt mehr als 10.000 Austritte.
Doch die seit Jahren anhaltenden Skandale und die schwindende Relevanz der Kirche in der Gesellschaft konnten der Gemeinde in Fulda-Neuenberg bislang wenig anhaben. Viele Jahre ging es dort nur aufwärts - gegen den Trend.
"Lebendige und stabile Gemeinde"
Als Bürger sein Amt vor nun 25 Jahren antrat, zählte die Gemeinde im katholisch dominierten Fulda noch 1.500 Mitglieder. Bis 2021 wuchs sie auf 2.300 an, aktuell sind es 2.216.
Damit verlor zwar auch die Kreuzkirche im vergangenen Jahr rund 80 Mitglieder. Aber der Aderlass fällt moderat aus, wie Bürger sagt. "Wir haben zusammen mit vielen Ehrenamtlichen eine sehr lebendige und stabile Gemeinde."
Profitiert habe man von einem Neubaugebiet in der Nähe. Doch auch über den Einzugsbereich der Kreuzkirche hinaus kommen Besucher zu den mitunter modern interpretierten Gottesdiensten des Pfarrers. Der ist zwar mittlerweile 55 Jahre alt, wirkt aber immer noch jung, erfrischend und voller Tatendrang.
Pfarrer mit der "Gabe, Menschen zu begeistern"
Pröpstin Sabine Kropf-Brandau, die den Kirchen-Sprengel als eine Art Regional-Bischöfin leitet, sagt über Bürger: "Er hat mit seinem Charisma die Gabe, Menschen zu sammeln, zu begeistern und zu engagieren."
Angesichts des großen Interesses und eines pulsierenden Gemeinde-Lebens wurde die Kreuzkirche irgendwann zu klein. Bei Gottesdiensten an hohen Feiertagen platzte sie aus allen Nähten.
Deswegen sammelte Bürger mit der Gemeinde Geld. Im Jahr 2013 wurde ein 200 Quadratmeter großer Anbau eröffnet, die Zahl der Sitzplätze damit verdreifacht. "Menschen suchen Gemeinschaft", sagt Bürger, "die lässt sich bei uns finden - schöne, helle, nicht-müffelnde Räume sind dafür wichtig."
"Sonst werden Kirchen entwidmet"
Ein Kirchen-Anbau sei heutzutage ungewöhnlich, sagt die Pröpstin. Sonst würden eher Kirchen entwidmet. "Wir brauchen nicht mehr so viele. Und von Gebäuden müssen wir uns auch aus Kostengründen trennen."
Dass das in der Kreuzkirche in Fulda anders ist, hat mit Pfarrer Bürger zu tun. Der wegen seiner Lauf-Begeisterung in der Lokalpresse als "Marathon-Pfarrer" bezeichnete Geistliche ist viel in der Öffentlichkeit unterwegs. Er weiß: "Man muss zu den Menschen rausgehen und darf nicht darauf warten, dass sie in die Kirche kommen." Pfarrer sei schließlich ein öffentliches Amt.
"Marathon-Pfarrer" auch bei Social Media aktiv
Egal ob Facebook, Instagram oder Tiktok - um auch Jüngere zu erreichen, ist Bürger in sozialen Netzwerken aktiv. "Ich bin transparent, was meine Arbeit angeht, und rede in Social Media darüber. Dabei versuche ich persönlich und authentisch zu sein, aber nicht peinlich privat", lautet die Devise des zweifachen Familienvaters. "Ob das gelingt, mögen andere entscheiden. Ich bin auf der Kanzel bei der Predigt nicht anders als beim Joggen."
Mit Konfirmanden hat der Pfarrer auch schon einen Tanz bei Tiktok präsentiert. Der wurde über eine halbe Millionen Mal aufgerufen und bekam mehr als 30.000 Likes.
Merkwürdige Kirchen-Riten: "Alte Lieder, die man nicht versteht"
Solche moderne Aktionen seien gut für die Akzeptanz der Kirche, findet Kreuzkirchen-Vikarin Johanna Lüdeke. Menschen ohne kirchliche Sozialisation und Vorwissen möge dort sonst vieles merkwürdig erscheinen, sagt die 27-Jährige: "Da stehen Zahlen an der Wand, Menschen schlagen Bücher auf und singen 500 Jahre alte Lieder, die man nicht versteht."
Um mehr Öffentlichkeit für die frohe Botschaft herzustellen, überträgt der mit Tablet-Computer in der Hand predigende Pfarrer auch Gottesdienste bei YouTube. Zu seinem beliebtesten Format zählt der "AAAndere Gottesdienst". Die drei Großbuchstaben A stehen für "Ausschlafen, Aufatmen, Aufeinander zugehen".
Dreimal mehr Besucher zu modernen Themen-Gottesdiensten
Auch neben der für Langschläfer sympathischen Startzeit um 11 Uhr unterscheidet sich dieser Gottesdienst von gewöhnlichen Kirchgängen. Es gibt moderne Musik von einer Band statt Orgel-Klänge. Lebensnahe Themen, etwa "Generation Y – Was sie denken, was sie glauben" werden mit Hilfe von Präsentationen besprochen. Und am Ende kommen alle bei einem Snack ins Gespräch.
Ansprechen möchte Bürger so auch Menschen, die sich von der Kirche entfernt haben. Das scheint zu funktionieren: Es kämen dreimal so viele Gäste wie sonst und vor allem auch junge Menschen, sagt der Pfarrer.
"Stefan Bürger ist ein Vorreiter und ein wunderbares Aushängeschild der Kirche", sagt Pröpstin Kropf-Brandau. Doch auch andere Kolleginnen und Kollegen würden in dem Veränderungsprozess neue Wege gehen. "Wir müssen uns wandeln, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen."
"Pfarrherrlichkeit ist nicht mein Ding"
Bürger ergänzt, er wolle die Menschen berühren, "innerlich versteht sich". "Wir als Kirche müssen uns fragen, was wir für die Menschen tun können." Sein Leitgedanke laute deshalb "Vom ICH zum WIR". Und er betont: "Pfarrherrlichkeit in jeglicher Form ist nicht mein Ding."
Die EKKW hatte die Gemeinden zuletzt ermutigt, neue Ideen auszuprobieren. Das Stichwort lautete: "Spielraum Gottesdienst". Die Kreuzkirche und Stefan Bürger haben diesen Spielraum genutzt.
"Dabei geht es aber nicht um mich, sondern um die Sache, den Inhalt und das Evangelium", betont der Pfarrer. "Dass Gott die Menschen liebt. Ich und andere sind Medium für die gute Sache."