Sehnsuchtsort im Westen Wie Gießen zur Anlaufstelle für hunderttausende DDR-Flüchtlinge wurde
Fast eine Million Flüchtlinge, Vertriebene und Aussiedler aus der DDR und ehemaligen Ostblockstaaten kamen bis zur Wiedervereinigung im "Notaufnahmelager Gießen" an – nach dem Mauerfall wurde die Einrichtung quasi überrannt. Jetzt entsteht dort eine Gedenkstätte.
An dem Tag, an dem Hermann Frankfurth mit seiner Frau, zwei Töchtern und vier Koffern in Leipzig in einen Zug steigt, hat er keine Hoffnung mehr für seine Heimat. Am 6. Oktober 1989 hat er das Gefühl: Bald bricht hier alles zusammen. In den Straßen von Leipzig demonstrieren montags Zehntausende, die DDR scheint am Ende. Aber dass dieses Ende auch tatsächlich so bald kommen könnte – das scheint da noch undenkbar.
Seit Jahren versucht die Familie bereits auszureisen. Als praktizierende Christen fühlen die Frankfurths ein ständiges Misstrauen in ihrem Umfeld. Besonders nach der Flucht seines Bruders hat die Stasi Hermann Frankfurth auf dem Schirm. Die Post wird geöffnet und gelesen. Promovieren darf der Bauingenieur nicht. Und ständig hat er Angst, etwas zu denken und dann zu sagen, was Folgen haben könnte.
Als schließlich der Ausreiseantrag genehmigt wird, überlegt die Familie nicht lange. Schon am nächsten Abend verlassen die Frankfurths die DDR für immer. Ihre ersten Schritte auf dem Weg in ein neues Leben im Westen macht die Familie in Gießen – so wie viele andere Menschen auch.
Jeder Vierte war in Gießen
Im Gießener Meisenbornweg in der Nähe des Bahnhofs befand sich bis 1990 die größte und wichtigste Erstaufnahmeeinrichtung in Westdeutschland für Flüchtlinge, Vertriebe und Aussiedler aus der DDR und den ehemaligen Ostblockstaaten.
Von den Menschen, die zwischen 1950 und 1990 in die Bundesrepublik kamen, durchlief etwa jeder Vierte die Gießener Einrichtung – insgesamt rund 900.000 Menschen. Manche blieben nur über Nacht, andere monatelang.
Bedeutung bisher wenig bekannt
Die historische Bedeutung dieses Orts ist bisher allerdings kaum bekannt. Wohl auch, weil die Räume bis vor wenigen Jahren noch aktiv als Flüchtlingsunterkunft genutzt wurden. Seit 2018 plant die Landesregierung aber, das ehemalige "Notaufnahmelager Gießen" zu einem interaktiven Lern- und Erinnerungsort umzugestalten. Besonders für Schulklassen soll der Besuch geeignet sein.
Mit einigen Jahren Verzögerung wird das Projekt nun endlich umgesetzt. Im Sommer nächsten Jahres soll der Gedenkort fertig werden. Optisch soll dafür eines der Gebäude in die 1960er Jahre zurückversetzt werden. Kernstück soll dann eine interaktiv gestaltete Dauerausstellung sein, die anhand von Dokumenten, historischen Gegenständen, aber vor allem Zeitzeugenberichten die Geschichte des Lagers zeigt.
Zeitzeuge: Frau im Lager kennengelernt
Einer dieser Zeitzeugen ist Peter Kleiner. Als der 77-Jährige die Räume betritt, die vor mehr als fünfzig Jahren sein Leben veränderten, kommen sofort Erinnerungen hoch. "Schöne, gute Erinnerungen", sagt er und zeigt auf der Baustelle, wo damals alles war: Essensausgabe, Krankenstation und drüben auf der anderen Seite des Innenhofs die Wohnräume.
Drei Monate hatte er als 23-Jähriger hier gelebt – und da hatte er auch sie kennengelernt: Inge, seine heutige Ehefrau. Beide hatten zur deutschsprachigen Minderheit in der damaligen Tschechoslowakei gehört. 1970 durften sie legal ausreisen.
"Es waren viele junge Leute zu der Zeit hier" erinnert sich Kleiner. "Wir sind oft in die Stadt gegangen, haben in der Lahn gebadet – was heute vielleicht gar nicht mehr so möglich ist." Alles sei interessant und neu gewesen für die jungen Menschen. "Wir waren ja alle im Sozialismus aufgewachsen."
Von "Discplaced Persons" bis zur Flüchtlingskrise
Erstmals ausgiebig aufgearbeitet wurde die Geschichte des Notaufnahmelagers 2016 durch die Historikerin Jeanette van Laack unter dem Titel Sehnsuchtsort Gießen.
Florian Greiner, Historiker und Geschäftsführer des neuen Gedenkorts, erklärt: Die Ausstellung beginnt mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als zahlreiche Ausgebombte, heimkehrende Soldaten und ehemalige Zwangsarbeiter in die Stadt strömten, sogenannte "Displaced Persons". Fokus soll dann auf den Jahrzehnten bis zur Wende liegen, in denen es verschiedene Fluchtbewegungen gab.
Aber auch die spätere Nachnutzung bis 2018 soll thematisiert werden. Nach der Wiedervereinigung wurde das Gelände Teil der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete. Auch während der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 waren hier Asylsuchende aus der ganzen Welt untergebracht. "Manche Spuren aus diesen Jahren wollen wir bewusst erhalten", so Greiner.
Der Geschäftsführer der Gedenkstätte erklärt: Dass Gießen überhaupt zum zentralen Auffangort wurde, habe an den Alliierten gelegen. Um die Ankunft der sogenannten "illegalen Grenzgänger" nach dem Krieg zu organisieren und sie möglichst zügig wieder nach Hause zurückschicken zu können, hatten Amerikaner und Briten in ihren Besatzungszonen zentrale Lager eingerichtet. Die Amerikaner wählten dafür Gießen.
Ständig Ausnahmezustand
Greiner erklärt: In den Jahrzehnten, in denen das Notlager genutzt wurde, habe hier immer wieder Ausnahmezustand geherrscht. Mal sei die Lage überschaubar gewesen, mal sei das Lager förmlich überrannt worden.
Auch hr-Archiv-Material zeigt zum Teil riesige Schlangen vor dem Gelände. Allein am Tag nach dem Mauerfall standen rund 2.000 Bürgerinnen und Bürger der DDR an der Pforte. Im eigentlich für 600 Menschen ausgelegten Aufnahmelager wurden zum Teil in Fluren Feldbetten aufgestellt. Menschen wurden in Turnhallen und Gemeinschaftshäusern untergebracht.
Soziales Leben im Provisorium
Die Ausstellung soll deshalb auch zeigen, wie hier immer wieder improvisiert wurde und wie das soziale Miteinander und die Abläufe im Lageralltag aussahen: überfüllte Mehrbettzimmer, Konzerte im Innenhof, Bollerwagen voller Koffer. Aber auch Befragungen durch die Behörden gehörten dazu – um kommunistische Infiltration zu verhindern, wie Greiner erklärt. "Das war hier der einzige Ort in der BRD, wo Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz direkt nebeneinander Büros haben durften."
Schon damals habe es engagierte Helfer aus der Zivilbevölkerung gegeben. Aber gleichzeitig auch durchaus Vorbehalte und Widerstände. "Ganz ähnliche wie heute", meint Greiner. "Begriffe wie Wirtschaftsflüchtlinge, Streuner oder Illegale, die gab es hier schon vor Jahrzehnten."
Zeitzeuge: Ein Symbol der Befreiung
Hermann Frankfurth sagt heute: Die Zentrale Notaufnahme sei für ihn ein Symbol der Befreiung. Er habe seit seiner Ankunft in Gießen gewusst, dass er jetzt frei sagen und denken könne, was er wolle.
Es sei wichtig, das auch jungen Leuten heute zu erzählen: Was Demokratie wert ist – und was Diktatur mit Menschen macht. "Nämlich: Sie so in die Verzweiflung zu treiben, dass sie ihre Heimat verlassen wollen."
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