Psychische Erkrankungen nehmen zu Wie mit Hilfe von Virtual Reality Ängste überwunden werden  

Psychische Erkrankungen wie Angststörungen nehmen seit Jahren zu. Bemerkbar macht sich das nicht nur in den Statistiken der Krankenkassen, sondern vor allem auf den Wartelisten der Therapeuten. Die werden bei der Versorgung von Patienten kreativ und setzen auch auf Technik.  

Eine junge Frau mit langen dunkelblonden Haaren trägt eine schwarze VR-Brille.
hessenschau-Reporterin Zoe Bünning stellt sich im Selbstversuch ihrer Angst vor Tauben. Bild © hr
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Herzrasen, schweißnasse Hände, Atemnot oder ein Druckgefühl auf dem Brustkorb - Paula (Nachname ist der Redaktion bekannt), erinnert sich noch genau an ihre ersten Panikattacken. Damals ist sie 21 Jahre alt und frisch ins Studium gestartet. Heute sagt sie, sie habe sich zu viel Druck gemacht.  

Paula ist mit diesem Problem nicht alleine. Rund 400.000 Hessen und Hessinnen hatten laut Hochrechnungen der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) 2023 mit Angststörungen zu kämpfen. Die Zahl der Betroffenen sei damit seit 2008 um rund 62 Prozent gestiegen. 

Gründe für die Entstehung von Ängsten

Warum Angststörungen entstehen, dafür gibt es viele Gründe, erklärt Psychotherapeutin Martiel Salim-Latzel von der Angstambulanz der Universitätsmedizin Frankfurt. Auslöser dafür können weit in der Vergangenheit liegen, wie traumatische Kindheitserlebnisse. Aber auch chronischer Stress, sei es durch den Job, die Familie oder durch gesellschaftliche Krisen, kann Angststörungen verstärken.  

Seit der Corona-Pandemie sei die Nachfrage nach Psychotherapie besonders gestiegen, sagt Salim-Latzel. Das liege vor allem daran, dass Krisen häufig zu Kontrollverlust und somit zu Ängsten führen können. Für die Betroffenen wird der Alltag zum Problem.  

"Am Anfang zeigten sich die Panikattacken immer nachts, was natürlich extrem kräftezehrend war, dann den Tag zu überleben", beschreibt Paula. Erst nach einigen Wochen vertraut sie sich ihrer Mutter an, gemeinsam gehen sie zur Hausärztin. Diese verschreibt zunächst Medikamente, die jedoch keine große Wirkung zeigen. Erst fünf Jahre später öffnet ihr ein Gespräch mit einer Freundin die Augen. Paula wendet sich an eine Psychotherapeutin. 

Mit moderner Technik Ängste überwinden

Menschen dabei zu helfen, ihre Angststörungen zu überwinden - das ist das Ziel der Angstambulanz der Frankfurter Uniklinik. Mit Hilfe einer VR-Brille erleben die Patientinnen und Patienten dort virtuell Situationen, die für sie im Alltag belastend sein können.  

So können Menschen mit Flugangst in einem virtuellen Flugzeug fliegen. Personen mit Klaustrophobie in einem engen Aufzug stehen oder Patienten mit Angst vor bestimmten Tieren diese virtuell hautnah erleben.  

Therapeutin Martiel Salim-Latzel - eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren, weiß-grauer Streifen-Pulli, sie hält mit beiden Händen eine VR-Brille in Bauchhöhe fest, die lacht in die Kamera und steht in einem Praxisram mit Sessel und Stuhl in der Ecke.
Therapeutin Martiel Salim-Latzel Bild © hr

Und das hat viele Vorteile, erklärt Psychotherapeutin Martiel Salim-Latzel. "Ich als Therapeutin kann verschiedene Szenarien auswählen und sie individuell anpassen." Die Kontrolle liegt jedoch bei der Patientin, sie kontrolliert die Umgebung und kann die Brille jederzeit absetzen.

Therapie im Selbstversuch 

hr-Reporterin Zoe Bünning hat die virtuelle Expositionstherapie ausprobiert und sich mit Hilfe der VR-Brille in einem virtuellen Taubenschlag mit ihrer Angst vor Tauben konfrontiert.

hr-Reporterin Zoe Bünning im Selbstversuch - sie steht in einem Praxisraum - trägt eine VR-Brille, stemmt die Hände in die Hüften und lächelt entspannt.
Im Selbstversuch stellt sich hr-Reporterin Zoe Bünning ihrer Angst vor Tauben - und wirkt dabei doch recht entspannt. Bild © hr

"Man ist wirklich in dieser Welt", fasst Bünning das Erlebte zusammen. "Man sieht die Tauben vor sich, die auf einen zufliegen. Und rational weiß man, die können mich jetzt nicht berühren. Und trotzdem macht es einen total fertig." Inklusive aller körperlichen Reaktionen, die Ängste auslösen.

Im Selbstversuch hält Bünning so lange aus, bis sie entspannter wird. Ihr Fazit: "Jetzt fühle ich mich ganz gut vorbereitet für eine Konfrontation im echten Leben." 

Digitale Angebote als Hilfsmittel

Neben der VR-Brille gibt es noch weitere digitale Angebote. Smartphone-Apps, wie digitale Angst-Tagebücher, können Patientinnen und Patienten zum Beispiel dabei helfen, ihre Erkrankung besser zu verstehen.  

Das führe dazu, dass Betroffene in eine Beobachterperspektive wechseln und merken, "rational macht die Angst überhaupt keinen Sinn", wie Psychotherapeutin Martiel Salim-Latzel sagt. Für den ersten Schritt seien solche digitalen Angebote sehr gut, sie "ersetzen aber nicht die Konfrontation im echten Leben". 

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DAK-Studie: jungen Hessen geht es nicht gut

hs
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Das hat auch Patientin Paula so erlebt. Bei der Psychotherapeutin fühlt sie sich zum ersten Mal verstanden. Sie lernt, wie sie ihre Gedanken während einer Panikattacke lenken kann. "Es hört sich blöd an, aber man muss diese Angst und Panik einfach durchleben. Damit man lernt, mir ist ja gar nichts passiert." Inzwischen kennt Paula ihre Symptome und weiß damit umzugehen.

Mit Gruppentraining die Versorgungslücke schließen  

Wichtig ist es, dass Betroffene schnell Hilfe bekommen. Allerdings gibt es seit Jahren zu wenige Therapieplätze. Ein Problem, vor dem auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg steht. Denn die Zunahme von Angststörungen betreffe vor allem junge Menschen, Kinder und Jugendliche, wie Psychotherapeutin Christina Pranjic berichtet.  

"Corona war sehr, sehr tragisch für junge Menschen", so Pranjic. "Durch diese soziale Isolation kam es zu Entwicklungseinbußen, die vor allem Kinder machen mussten." Dazu würden die globalen Krisen, ein größerer Leistungsdruck in der Schule und der Vergleich auf sozialen Medien kommen – das Ergebnis: immer länger werdende Wartelisten.  

In der Marburger Klinik hat man sich deshalb ein neues Konzept überlegt. Mit Gruppentraining soll eine erste Versorgung gewährleistet werden. "Durch die Gruppentherapien können wir in kurzer Zeit viele Leute behandeln", sagt Pranjic.  

Mit Gruppenkonzept Warteliste abgeschafft

Neben den Gruppentherapien für die Kinder werden auch ihre Eltern in Gruppen trainiert. Die Erwachsenen lernen, wie sie ihre Kinder unterstützen können und durch den gemeinsamen Austausch können die Familien gegenseitig voneinander lernen. "Die Kinder und die Erwachsenen sehen, dass sie nicht alleine dastehen, dass viele ähnliche Schwierigkeiten haben", erklärt Pranjic.  

Dank der Gruppen gibt es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg jetzt keine Wartelisten mehr. Direkt nach der Anmeldung können die Betroffenen an den Gruppen teilnehmen, währenddessen läuft die Diagnostik und dann wird im Einzelfall entschieden, ob noch weiterer Therapiebedarf besteht.

 

Redaktion: Caroline Wornath

Sendung: hr INFO,

Quelle: hessenschau.de