Chance oder Gefahr? Wie Schulen und Unis in Hessen mit ChatGPT umgehen
Der Hype um ChatGPT erreicht auch die hessischen Schulen und Universitäten – und setzt diese unter Handlungsdruck. Wie lassen sich Plagiate mit der Künstlichen Intelligenz verhindern? Und wie lässt sich sicherstellen, dass überhaupt noch richtig gelernt wird?
"Schreibe einen kurzen Aufsatz über Hessen." Wer dem Chatbot ChatGPT diese Anweisung ins Textfeld tippt, bekommt wenig später einige Zeilen ausgespuckt, die klingen, als hätte sie ein Mensch geschrieben – mit einigen Wissenslücken, zugegebenermaßen. Heidelberg liegt nicht in Hessen, das weiß der Bot offenbar nicht. Für eine mittelmäßige Schulnote hätte es aber sicherlich gereicht.
Was bedeutet das für Schulen und Hochschulen, wo das Schreiben von Texten – zumindest in vielen Fächern – eine essenzielle Leistung ist, die Schülerinnen und Schüler und Studierende erbringen müssen, um versetzt zu werden, um Prüfungen zu bestehen, und letztlich auch, um wissenschaftliche Karrieren einzuschlagen?
Bei der breiten Masse der Studierenden angekommen
Darüber habe man im Oktober 2022 noch intern bei einem Treffen der Prüfungsausschüsse gesprochen, erinnert sich Anika Limburg vom Lern-Lehr-Zentrum der Hochschule RheinMain in Wiesbaden und Rüsselsheim. "Man wollte das Thema damals nicht an die große Glocke hängen, um keine schlafenden Hunde zu wecken", sagt sie. Diese Option habe sich dann wenig später erledigt.
Im November 2022 veröffentlichte das US-amerikanische Unternehmen Open AI eine Prototyp-Version von ChatGPT. Nach einem kurzen Log-in liefert der Chatbot kostenlos und in Sekundenschnelle ausformulierte Antworten auf nahezu alle möglichen Fragen.
"Die Hochschulen sollten schnell ins Handeln kommen"
Durch die leichte Zugänglichkeit sei ChatGPT schnell in der breiten Öffentlichkeit angekommen, sagt Anika Limburg, die sich mit Künstlicher Intelligenz (KI) und anderen digitalen Tools in der Hochschuldidaktik schon seit 2019 beschäftigt. "Ich gehe davon aus, dass die Zahl der Studierenden, die Programme wie ChatGPT nutzen, gerade drastisch zunimmt", sagt Limburg. "Die Frage ist: Tun sie das mit Betrugsvorsatz?"
Täuschungsversuche oder missbräuchliche Nutzungen von ChatGPT sind an den hessischen Universitäten bislang noch nicht aufgeflogen, das berichten jedenfalls die Universitäten in Frankfurt, Marburg, Gießen und Kassel.
Sie alle teilen auf hr-Anfrage mit, dass sie die Entwicklung beobachten, dass sie überlegen, Prüfungs- und Lehrformate anzupassen – dass sie aber auch Chancen in den Technologien für Wissenschaft und Lehre sehen. "Hochschulen stehen an diesem Punkt gerade unter sehr großem Transformationsdruck", sagt Anika Limburg. "Sie sollten schnell ins Handeln kommen."
Philologenverband in Sorge
An hessischen Schulen und unter Lehrkräften sei die Künstliche Intelligenz noch kein "beherrschendes Thema", sagt der Vorsitzende des Philologenverbands, Reinhard Schwab. "Das wird es aber wohl werden", fügt er hinzu. "Es besteht die Gefahr, dass sich Schülerinnen und Schüler zu sehr auf die Technik verlassen, ihnen Denken und eigenständiges Arbeiten abgenommen, ja regelrecht abtrainiert wird", sagt er.
Der Vorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Hessen, Thilo Hartmann spricht von "Einzelfällen", in denen es sicherlich schon dazu gekommen sei, dass Schülerinnen und Schüler etwa ihre Hausaufgaben vom Chatbot schreiben ließen. "Normalerweise weiß ich, wer welchen Schreibstil hat", sagt Hartmann. "Im Mittelstufenbereich kriegen die Schülerinnen und Schüler das in der Regel noch nicht geschickt genug hin, fremde Texte so zu verändern."
Welche Prüfungsformate sind noch sinnvoll?
Doch welche Maßnahmen können Bildungseinrichtungen konkret ergreifen, um Plagiate und Missbrauch durch KI-Programme zu verhindern? Es müsse neu überdacht werden, welche Prüfungsform geeignet sei, sagt Anika Limburg. "Die klassische Open-Book-Klausur, in der es um reine Wissensabfrage geht, kann nicht mehr das Mittel der Wahl sein", sagt sie. Bei Open-Book-Klausuren sind sämtliche Hilfsmittel – also im ursprünglichen Sinne Lehrbücher und Vorlesungsfolien – zugelassen.
Es gebe jedoch durchaus zahlreiche sinnvolle Möglichkeiten, mit ChatGPT oder ähnlichen Programmen als "ergänzendes Werkzeug" zu arbeiten. Inwieweit Missbrauch möglich ist, sei auch stark von den Fächern abhängig. Insbesondere die Geisteswissenschaften, in denen die Eigenleistung von Studierenden besonders in schriftlichen Texten zum Ausdruck komme, seien gefordert. "Hier kann man überlegen, schriftliche Arbeiten immer durch einen mündlichen Anteil zu ergänzen."
Kritischen Umgang vermitteln
Die Eigenständigkeitserklärung am Ende von Arbeiten sei an der Hochschule RheinMain bereits angepasst worden. So gebe es eine Passage, in der stehe, dass KI-Instrumente weder zuverlässig noch korrekt sein müssen, in jedem Fall seien die verwendeten Tools aber im Anhang aufzulisten.
Alternativ könnten Lehrende auch entscheiden, dass keine KI verwendet wird. Spätestens wenn der Konzern Microsoft ChatGPT wie geplant in sein Portfolio aufnimmt, werde aber kein Weg mehr an den Programmen vorbeiführen, sagt Limburg.
Strikte Verbote oder Sperren von ChatGPT halten auch die Verbände der Lehrkräfte nicht für zielführend. Die Vorsitzenden der GEW und des Philologenverbands sehen es als Aufgabe der Lehrkräfte, in Schulen den kritischen Umgang mit den Technologien zu vermitteln. "Die Schülerinnen und Schüler müssen verstehen, wie Künstliche Intelligenz funktioniert", sagt Hartmann von der GEW.
Kultusministerium sieht Chancen und Risiken
Dazu seien jedoch nicht alle Lehrkräfte in der Lage, gibt der Bundesverband der GEW in einer Pressemitteilung zu bedenken. Das hessische Kultusministerium schreibt auf Anfrage, man wolle länderübergreifend die Kompetenzen im Umgang mit Künstlicher Intelligenz stärken, sodass die Anwendungen wie ChatGPT auch für Lehrkräfte eine Entlastung darstellen könnten.
Zwar seien Risiken wie Datenschutzlücken, die Verbreitung von Falschnachrichten und Hassbotschaften zu beachten. Grundsätzlich begreife man die Technologie jedoch als Chance, um "Schülerinnen und Schüler individuell in ihrem Lernprozess zu unterstützen", heißt es.
Zusammen mit den anderen Ländern werde außerdem derzeit ein "Intelligentes Tutorielles System" zum Einsatz im Unterricht entwickelt. Ein Unterrichtsprogramm nach dem Vorbild von ChatGPT? Ganz so weit will das Kultusministerium nicht gehen: "Nein, das wird keine eigene Textverarbeitungs-KI", betont ein Sprecher des Ministeriums auf Nachfrage. Das Projekt stehe noch in der Anfangsphase und solle Schülerinnen und Schülern "irgendwann" als Lernmodell für verschiedene Fächer zur Verfügung gestellt werden.
Sendung: hr2, 26.01.2023, 16.35 Uhr
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