Diskriminierung von Sinti und Roma in Hessen "Wie soll ich denn sein?"
In Hessen registriert eine neue Meldestelle, wenn Angehörige der Minderheit von Sinti und Roma schlecht behandelt werden. Für Betroffene wie Fatima Stieb und ihren Sohn Jamal aus Bad Hersfeld ist Diskriminierung eine alltägliche Erfahrung.
Es braucht keinen ganzen Satz, um Jamal Stieb zu kränken. Im Chemie-Unterricht ging es gerade bei den Metallen um das Element Cu. Da reichte, dass ihm ein Mitschüler lachend ein "Kupfer, hehe, Kupfer!" hinwarf. Klar, kennt man: das fahrende Volk, die geborenen Metalldiebe eben, Trickbetrüger, Clankriminelle.
Jamal Stieb ist Sinto. Vor kleinen Gemeinheiten und einschneidenden Diskriminierungen schützen den 15-Jährigen aus Bad Hersfeld weder sein hessischer Akzent noch seine deutsche Staatsbürgerschaft. Freundlichkeit und Intelligenz auch nicht. "Mit vier konnte ich lesen, schreiben und bis 100 zählen. Trotzdem musste ich in die Vorschule."
Ob Kinder wie Jamal an der Schule stigmatisiert werden, Erwachsene am Arbeitsplatz und bei der Wohnungssuche oder ob ein Wirt partout am "Zigeunerschnitzel" auf der Speisekarte festhält: In Hessen werden solche Fälle neuerdings zentral erfasst und ausgewertet. Von einem "Meilenstein im Kampf gegen den Antiziganismus", spricht Adam Strauß, Vorsitzender des hessischen Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma.
Fälle dokumentieren und aufklären
MIA, die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus, stellte am Freitag in Wiesbaden bei einer Regionalkonferenz ihre Arbeit vor. Seit Juli können Betroffene und Zeugen sich an den beim Landesverband Deutscher Sinti und Roma sowie dem Frankfurter Förderverein Roma e.V. angesiedelten Dienst wenden: bei Beleidigungen, Zurücksetzungen, Angriffen.
"Es ist wichtig, die alltägliche Diskriminierung von Sinti und Roma sichtbarer zu machen, um sie wirksam bekämpfen zu können", sagt Strauß. Für 2022 hat die im Frühjahr jenes Jahres eröffnete MIA-Bundesstelle deutschlandweit mehr als 600 Fälle von Antiziganismus registriert.
Vertrauliche und anonymisierte Dokumentation
Tatsächlich dürften es sehr viel mehr Fälle sein. Viele Menschen wissen noch nicht, dass Diskriminierungen systematisch erfasst werden können. Alle Meldungen werden anonymisiert und vertraulich behandelt.
Mit der regionalen hessischen Stelle soll die Bekanntheit des Angebots unter den rund 10.000 im Bundesland lebenden Angehörigen der Minderheit steigen – und die Hemmschwelle sinken, sich zu melden. "Das Vertrauen in die lokalen Träger spielt eine wichtige Rolle", sagt Sozialminister Kai Klose (Grüne). Betroffenen stünden wohnortnahe Beratungsangebote zur Verfügung, ihre Angebote würden nun in verschiedenen Communities bekannt.
"Da wusste ich, woher der Wind weht"
"Wir sind seit mehr als 600 Jahren hier im Land. Seit 40 Jahren ist der Völkermord der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma anerkannt. Aber es ist oft noch immer so wie vor 40 Jahren", sagt Fatima Stieb. Die 41-Jährige ist die Mutter von Jamal. Und sie weiß genau, wie es ihrem Sohn ergeht. So wie ihr selbst.
Mit 18 durfte sie in der Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau von einem Tag auf den anderen nicht mehr in die Nähe der Kasse, wurde ins Warenlager versetzt. Vorher war es zu einem Diebstahl gekommen, den sie selbst gemeldet hatte. Eine Begründung bekam sie zunächst nicht: "Dann habe ich gehört 'Du bist eine Zigeunerin'. Da wusste ich, woher der Wind weht."
Was damals dazu führte, dass sie krank wurde und die Lehre abbrechen musste, wiederholt sich bis heute. Ob auf Ämtern, beim Bäcker oder im Bekleidungsgeschäft: Sie wird argwöhnisch beobachtet, unfreundlicher behandelt. Die Verunsicherung reicht tief: "Ich weiß ja nie, ob es gegen mich als Person geht oder weil ich Sintiza bin. Zu 99 Prozent ist es, weil ich Sintiza bin.“
Stereotype gegen Sinti und Roma halten sich hartnäckig. Wie seit Jahrhunderten werden sie bis heute kriminalisiert. "Viele sind immer noch damit konfrontiert, dass sie ein Geschäft betreten und gleich den Ladendetektiv hinter sich haben", berichtet Katharina Rhein vom Landesverband Deutscher Sinti und Roma über die Betroffenen.
Die Erhebung der neuen Antiziganismus-Meldestelle in Hessen soll solche Diskriminierungen sichtbar und deutlich machen, wo sie über Aufklärung besonders intensiv bekämpft werden müssen. Zur internen Bearbeitung werden die Orte der Vorfälle deshalb festgehalten.
Meistens sagt sie nichts
Fatima Stieb hat erlebt, dass das Problem omnipräsent ist. Meistens sage sie nichts. Wenn es ihr besonders gegen den Strich geht, spricht sie Menschen wegen ihres Verhaltens an. Privat habe sie öfter schon das erstaunte Urteil erhalten, sie sei ja gar nicht "so". Ihr fassungsloser Kommentar: "Wie soll ich denn sein? Wir sind ganz normale Menschen, wir gehen zur Arbeit, machen unseren Haushalt, unsere Kinder gehen zur Schule!"
Die Kraft der 41-Jährigen zum Widerstand gegen Stigmatisierung liegt in der Familie. Großmutter Hildegard gründete vor 50 Jahren den Verband Deutscher Sinti und Roma mit. Dort engagiert sich auch die Enkelin Fatima.
Von der Meldestelle und ihrer Öffentlichkeitsarbeit wünscht sie sich vor allem, dass sie, ihre Familie und andere Sinti und Roma der Normalität als Bürger ein Stück näherkommen. "Wir wollen mitten drin sein und nicht außen am Rand."
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 8.12.2023, 19.30 Uhr
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