Young Carer Wenn Kinder ihre Angehörigen pflegen
Pflege ist längst nicht nur ein Thema für Erwachsene. Wird in einer Familie jemand pflegebedürftig oder schwer krank, stehen oft auch Kinder oder Jugendliche in der Pflegeverantwortung. Was macht das mit jungen Menschen, schon so früh zu pflegen?
Vorsichtig schiebt Jakob Zellmer seinen Bruder näher an den Tisch heran. Seit er sechs Jahre alt war, kümmert sich der 20-Jährige gemeinsam mit seinem älteren Bruder und der Mutter um die Pflege von Daniel. Der 14-Jährige sitzt seit dem Kleinkindalter im Rollstuhl. Mit den Jahren kommen immer mehr Aufgaben hinzu. Mittlerweile versorgt Jakob seinen jüngeren Bruder mit Medikamenten, bringt ihn zur Toilette oder fährt ihn zur Physiotherapie.
"Es gab so ein paar Sachen, wo ich am Anfang große Schwierigkeiten hatte, wie zum Beispiel, ihn aufs Klo zu bringen oder den Hintern abzuputzen. Aber mit der Zeit ist man da so reingewachsen", erzählt Jakob.
Als Daniels Teilhabeassistentin vor drei Jahren aufhört und die Familie keinen Ersatz findet, übernimmt Jakob. Er begleitet seinen Bruder jeden Morgen in die achte Klasse des nahegelegenen Gymnasiums und unterstützt ihn im Unterricht. Auch zuhause ist er immer in Hörweite, falls es einen Notfall gibt, denn Daniel hat Epilepsie. "Wenn ich Panik kriege, dann bleibt Jakob immer ruhig", erzählt Mutter Susanne Zellmer stolz.
Pflege findet zuhause statt
Daniel Zellmer ist einer von fast 370.000 pflegebedürftigen Menschen in Hessen. Die meisten, 2021 waren das gut 84 Prozent, werden wie er zuhause von ihren Partnern, Kindern, Verwandten oder von professionellem Pflegepersonal versorgt. Nur wenige Pflegebedürftige werden stationär versorgt, etwa in einem Heim. Nicht immer übernehmen Erwachsene die Pflege, oft kommen auch Kinder und Jugendliche in die Pflegeverantwortung.
Die Datenlage ist dürftig und die Forschung steckt noch in den Kinderschuhen. Statistisch betrachtet, pflegen etwa ein bis zwei Kinder pro Schulklasse ein Familienmitglied. Das sind insgesamt rund 480.000 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren in Deutschland, die zur Gruppe der Young Carer zählen.
Das geht aus der Studie "Die Situation von Kindern und Jugendlichen als pflegende Angehörige" der Universität Witten-Herdecke hervor, die die Hochschule im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums im Juli 2018 veröffentlicht hat. Die tatsächliche Zahl liegt wahrscheinlich höher.
Balanceakt zwischen Aufpassen und Aufwachsen
Jakob Zellmer ist einer von ihnen. Mutter und Sohn teilen sich die Pflege genau ein, gleichen ihre Terminkalender akribisch ab, damit jeder mal Freizeit hat. "Letztes Jahr war ich das erste Mal nach 14 Jahren über Nacht weg, weil die beiden Brüder das einfach super machen. Ich kann mich auf sie verlassen", erzählt Mutter Susanne.
Für Jakob ist seine Kindheit ein Balanceakt zwischen Aufpassen und Aufwachsen. "Es lag immer mehr Verantwortung auf meinen Schultern, als es normal für ein Kind gewesen wäre", erinnert er sich. Mit der Zeit wächst er an seinen Aufgaben.
Die Folgen: Erschöpfung, Stress, Burnout
Eine frühe Pflegeverantwortung kann negative Auswirkungen sowohl auf die physische als auch psychische Gesundheit junger Menschen haben, weiß Anna Wanka. Die Folgen: Erschöpfung, Stress, Ängste oder ein Burnout.
Die Soziologin forscht zu Studierenden mit Pflegeaufgaben an der Goethe-Universität in Frankfurt. "Diese Menschen sind weniger resilient, und wir sehen auch ganz deutliche institutionelle Nachteile. Diese Menschen brechen eher die Schule, die Ausbildung oder das Studium ab, sind in geringer qualifizierten Berufen beschäftigt oder arbeitslos." Das ziehe sich dann wie ein langer Arm durch den gesamten Lebensverlauf bis hin zur Altersarmut, so die Soziologin.
Oft ergäben sich Pflegefälle relativ plötzlich. Die wenigsten seien darauf vorbereitet. Sehr häufig werde die Aufgabe dann zunächst an diejenigen Familienmitglieder übertragen, die zeitlich am flexibelsten seien. Oft fallen die berufstätigen Eltern weg. Vor allem Töchter und Enkeltöchter seien besonders häufig betroffen, "weil Frauen häufig als pflege-affiner verstanden werden", erklärt Wanka.
Young Carer sind für die Gesellschaft unsichtbar
Junge Pflegende seien häufig für die Gesellschaft unsichtbar, schlüpften in eine Elternrolle, die sie eigentlich nicht haben sollten. Auf Seite der Pflegenden gebe es viel Scham, weil es nicht normal sei, in dem Alter zu pflegen.
"Pflege von älteren Menschen wird in unserer Gesellschaft mit älteren Körpern, mit Tod und Krankheit assoziiert. Deswegen trauen sich junge Menschen oft nicht, das mit jemandem zu teilen", sagt Wanka.
Mehr Pflegebedürftige bis 2055
Die Prognosen zeigen, dass die Zahl pflegebedürftiger Menschen steigen wird. Und es mangelt schon jetzt an Pflegekräften. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts werden allein in Hessen in den nächsten 30 Jahren rund 160.000 Pflegebedürftige hinzukommen, das ist ein Plus von 43 Prozent im Vergleich zu 2021.
Daher brauche es mehr Aufklärungs- sowie Hilfsangebote und eine Sensibilisierung für die Situation von jungen Pflegenden, findet Susanne Zellmer. "Ich glaube es ist wichtig, eine Anlaufstelle zu haben, wo sie sich mal richtig auskotzen können und wo sie auch verstanden werden!"
Anderen helfen mit der Initiative "Young Helping Hands"
Deshalb gründete Julika Stich 2016 die Initiative "Young Helping Hands". Die Gießenerin leistet Aufklärungsarbeit über junge Pflegende, will die Hilfe bieten, die ihr damals gefehlt hat.
Stich ist erst zwei Jahre alt, als ihre Mutter an Multipler Sklerose erkrankt. Im Alter von sieben Jahren fängt Stich an, sie zu pflegen, hievt sie in den Rollstuhl und kümmert sich im Alter von zehn Jahren um ihre Intimpflege. Ihr Vater ist berufstätig. Nur die Großmutter und eine Cousine helfen bei der Pflege. Ein Pflegedienst kommt erst ins Haus, als Stich bereits 17 Jahre alt ist.
Lebenslange Folgen für junge Menschen
Bis heute hat die 41-Jährige mit den Folgen der Überlastung zu kämpfen. Sie hat eine lange Psychotherapie gemacht. "Ich bin aufgewachsen mit der Angst, dass meine Mutter gut versorgt ist, mit der Angst den Dingen nicht gerecht zu werden. Diese Angst und Panik spüre ich heute noch manchmal", erzählt sie.
Die Plattform "Young Helping Hands" gibt einen bundesweiten Überblick über Hilfsangebote und klärt auf über die Situation junger Pflegender. Sie fungiert als Erstanlaufstelle. Darüber hinaus berät Julika Stich Betroffene auch telefonisch. Sie schaut individuell, was die betroffene Person zur Entlastung braucht, vermittelt sie an entsprechende Stellen und Hilfsangebote vor Ort, hilft bei Anträgen und hat ein offenes Ohr.
"Wir müssen hinschauen!"
Sowohl betroffene Pflegende als auch Ehemalige wenden sich an sie, um über ihre Erfahrungen zu sprechen. Immer wieder merkt Stich, dass die Hemmschwelle noch hoch ist. Manchmal sei es schwer, überhaupt mit Betroffenen in Kontakt zu kommen. Deshalb sei es umso wichtiger, darüber zu sprechen und hinzuschauen.
"Ich fühle mich in Sicherheit!"
Wenn es Jakob Zellmer mal zu viel wird, kann er mit seinen Freunden darüber sprechen. Sie haben immer ein offenes Ohr. Er hält seinem Bruder ein Glas Wasser mit Strohhalm hin. "Ich fühle mich gut bei ihm aufgehoben und in Sicherheit. Ich kann es mir nicht besser vorstellen", sagt Daniel. Sein Blick wandert zu seinem großen Bruder, und er lächelt stolz.
Sendung: hr-iNFO, 21.06.2024, 6.57 Uhr
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