Zwei Jahre nach russischem Angriff Der "Marathon" der ukrainischen Geflüchteten in Hessen

Vor zwei Jahren überfiel Russland die Ukraine. Zehntausende Geflüchtete verschlug es nach Hessen. Sie in Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Gesellschaft zu integrieren, bleibt eine Mammutaufgabe - die erst in Teilen bewältigt ist.

Urkaine Flagge
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Von der Vorstellung, dass die Herausforderungen für die ukrainische Diaspora in Hessen im Laufe der Zeit weniger werden, hat sich Stepan Rudzinskyy schon lange verabschiedet. "Mann muss irgendwie damit zurechtkommen, dass man einen Marathon läuft", sagt der Vorsitzende des Ukrainischen Vereins Frankfurt. An einen "Sprint", eine sehr intensive aber kurze Anstrengung, um die Folgen der russischen Aggression abzufangen, glaubt niemand mehr. Am wenigsten die Betroffenen.

Es hat einige Aufs und Abs gegeben, seit dem Beginn der Invasion am 24. Februar 2022. Die erste Erleichterung darüber, dass die Ukraine dem geplanten Blitzkrieg Putins standgehalten hat, die Freude über die großflächigen Rückeroberungen im Sommer 2022, das Bangen angesichts des anhaltenden Abnutzungskrieges. "Besonders euphorisch waren wir natürlich nie", sagt Rudzinskyy. Dafür sind die Herausforderungen zu groß.

Verachtfachung binnen eines Jahres

Wie groß, das verdeutlicht allein schon ein Vergleich der Zahl von Ukrainerinnen und Ukrainern in Hessen vor und nach Kriegsausbruch. Ende 2021 - unmittelbar vor Kriegsausbruch lag diese nach Angaben des Statistischen Landesamtes noch bei 11.015. Ein Jahr später hatte sie sich auf 88.075 verachtfacht.

Zumindest zeitweise wurde die ukrainische Gemeinschaft damit zur zweitgrößten Gruppe von in Hessen lebenden Ausländern - nach der Gruppe türkischer Staatsbürger. Die zahlenmäßig größte ukrainische Bevölkerung wiesen Ende 2022 Frankfurt (10.030), Kassel (8.300) und der Landkreis Gießen (6.300) auf.

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Insgesamt sind nach Auskunft des Statistischen Landesamtes seit Kriegsbeginn 89.525 Personen (Stand: 18.02.2024) aus der Ukraine nach Hessen gekommen. Da sie bei der Aus-, Weiter- oder Heimreise nicht erfasst werden, ist unklar, wie viele von ihnen tatsächlich aktuell noch in Hessen leben. Die Angaben zeigen jedoch, dass der weitaus überwiegende Teil der Geflüchteten in den Monaten unmittelbar nach Ausbruch der Kampfhandlungen eintraf.

Das bestätigt auch den Eindruck von Stepan Rudzinskyy: "Die meisten kamen am Anfang, in den letzten Monaten waren es nur noch wenige." Für den Ukrainischen Verein Frankfurt bedeute das unter anderem, dass quasi über Nacht etwa die Zahl der Schülerinnen und Schüler der Samstagsschule von 100 auf 430 anstieg - und bis heute annähernd gleich geblieben ist.

Sprachkenntnisse als Hindernis auf dem Arbeitsmarkt

Die Statistik zeigt, dass der größte Teil der Ukrainerinnen und Ukrainer in Hessen im erwerbsfähigen Alter ist. Knapp 53.000 sind zwischen 18 und 63 Jahren alt. Ihre Integration in den Arbeitsmarkt gestaltet sich derweil aus unterschiedlichen Gründen schwierig.

Von den 41.000 erwerbsfähig gemeldeten Ukrainerinnen und Ukrainern gehen derzeit nach Angaben der Regionaldirektion der Arbeitsagentur lediglich 13.100 einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach. Weitere 3.900 sind geringfügig beschäftigt.

Dabei liegt das Problem meist nicht in der schulischen oder beruflichen Qualifikation der Geflüchteten, wie Anita Heise vom Beratungszentrum des Frankfurter Arbeitsmarktprogramms berichtet. Rund 270 Ukrainerinnen und Ukrainer hat ihre Einrichtung in den letzten beiden Jahren bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt unterstützt. "Sehr viele sind hochqualifiziert und haben mehrjährige Berufserfahrung."

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Eines der größten Hindernisse bleibt die Sprache. 7.100 Ukrainerinnen und Ukrainer besuchten 2023 nach Angaben des Innenministeriums in Hessen Kurse des "Deutsch 4U"-Programms. Das Programm wird im laufenden Jahr fortgesetzt. Das Land stellt dafür 4 Millionen Euro zur Verfügung.

Nach Ansicht von Heise gibt es jedoch einen Faktor, der eine mindestens genauso große Rolle spielt: Knapp 60 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine sind weiblich. Viele davon sind gemeinsam mit ihren Kindern geflohen. Nun konkurrieren sie in Hessen mit den übrigen Eltern, um die nach wie vor knappen Betreuungsplätze in Kindertagesstätten.

"Viele wollen arbeiten, aber eben in Teilzeit", sagt Heise. Das Angebot an entsprechenden Jobs aber sei naturgemäß begrenzt - gerade im hochqualifizierten Bereich.

Schule: Übergang in Regelklassen gestaltet sich schwierig

Minderjährigen Geflüchteten bietet sich immerhin die Möglichkeit, relativ früh in das deutsche Bildungssystem einzusteigen. Rund 20.000 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine werden derzeit an hessischen Schulen unterrichtet. Eine Mammutaufgabe: Denn auch hier müssen in aller Regel zunächst die notwendigen sprachlichen Voraussetzung geschaffen werden.

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Der überwiegende Teil besuchte deshalb bis zum Ende des letzten Schulhalbjahres noch Intensivklassen. Weniger als ein Drittel hatte bereits den Übergang in den deutschsprachigen Regelunterricht geschafft. Das Kultusministerium geht jedoch eigenen Angaben nach davon aus, dass sich deren Zahl mit dem Halbjahreswechsel deutlich erhöht hat. Genauere Zahlen liegen allerdings noch nicht vor. Rund 1.000 Kinder befanden sich in Vorlaufkursen für die Grundschule.

Alles in allem sei die Integration der Seiteneinsteiger aus der Ukraine in das hessische Bildungssystem gelungen, glaubt Thilo Hartmann, Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Allerdings sei dies mit einer erheblichen Mehrbelastung einhergangen. Beispielsweise durch die Erhöhung der Schülerzahl in den Intensivklassen.

"Das Problem bleibt der Übergang in die regulären Schulformen", so Hartmann. Und das nicht nur für die Schülerinnen und Schüler. Denn bei der Mittelzuweisung durch das Land an die einzelnen Schulen, würden die Kindern in den Intensivklassen nicht mitgezählt - was zu einer zusätzlichen Verknappung der Ressourcen führe.

Konjunkturen der Hilfsbereitschaft

Stepan Rudzinskyy vom Ukrainischen Verein in Frankfurt ist trotz aller Probleme zuallererst dankbar für die Hilfe, welche den Geflüchteten zuteil wurde. "Vor allem auch auf lokaler Ebene". Aber auch Hilfsbereitschaft unterliegt Konjunkturen. Und je länger der Krieg in der Ukraine sich hinzieht, umso eher setzt ein Gewöhnungseffekt ein - gerade bei jenen, die nicht direkt betroffen sind.

"Bei uns im Verein gibt es das aber nicht. Jeder ist betroffen. Weil Verwandte jetzt hier sind oder an der Front", so Rudzinskyy. Am Jahrestag der russischen Invasion wird er daher versuchen, das Bewusstsein für den Krieg in Europa wachzuhalten und an einer Demonstration teilnehmen. Der Marathonlauf hat gerade erst angefangen.

Weitere Informationen

Sendung: hr-iNFO, 23.02.2024, 14.15 Uhr

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Quelle: hessenschau.de, Kim Horbach (hr), Benjamin Holler (hr)