Festival des Mittel- und Osteuropäischen Films in Wiesbaden "Go East wird auch in den nächsten 25 Jahren relevant bleiben"

Seit 2001 lenkt das Wiesbadener Filmfestival Go East den Blick auf Filme aus Mittel- und Osteuropa. Mit der Jubiläumsausgabe verabschiedet sich Heleen Gerritsen als Leiterin. Im Interview erklärt sie, welche Entwicklung das Festival genommen hat und warum böse, ältere Frauen darin eine große Rolle spielen.

Zwei Menschen an einem Küchentisch, darauf ein leuchtendes Kreuz.
Szene aus "Holy Electricity", einem der Wettbewerbsfilme bei Go East. Bild © Go East Filmfestival

Als das Go East 2001 ins Leben gerufen wurde, waren Filme aus Mittel- und Osteuropa ein blinder Fleck. Claudia Dillmann, damals Direktorin des Deutschen Filmmuseums, besetzte diese Lücke, weil sie viel Optimismus und eine starke Aufbruchsstimmung bei den Filmschaffenden in der Region wahrnahm.

Zum 25. Jubiläum hat sich nicht nur die Stimmung in Osteuropa geändert. Welchen Fragen und Herausforderungen sich Go East in der aktuellen Ausgabe stellt, erklärt Heleen Gerritsen. Die Niederländerin war seit 2017 Festivalleiterin, ab der kommenden Ausgabe übernimmt Rebecca Heiler das Amt.

Das Gespräch führte Pablo Diaz.

hessenschau.de: Schwerpunktthema des diesjährigen Festivals ist das Altern – warum?

Heleen Gerritsen: Diesen Schwerpunkt haben wir gewählt, weil ältere Frauen auf der Leinwand erstens unterrepräsentiert sind und zweitens oft sehr stereotypisch dargestellt werden. Wir haben aber festgestellt, dass gerade im osteuropäischen Kino fantastische Filme entstanden sind, die mit diesen Stereotypen komplett aufräumen.

Wir haben veranstalten auch ein Symposium mit Altersforschern, Soziologinnen und Leuten aus der Filmbranche, weil es ist ein Fakt, dass nicht nur Deutschland immer älter wird, sondern die Bevölkerung in ganz Europa. Da ist die Frage, wie ändert sich das Kinopublikum und was für Filme wollen diese Leute sehen?

Die Idee entstand schon vor zwei Jahren, aber ich muss sagen, es ist ein fast schon revolutionäres Thema, was wir da gewählt haben: Böse ältere Frauen, die zurückschlagen. Ein Kurzfilmprogramm nennt sich "Revenge of the Babushka".

hessenschau.de: Worum geht es in diesen Filmen?

Faru mit Brille und Mantel auf dem Marktplatz
Heleen Gerritsen leitete das Filmfestival Go East von 2017 bis 2025. Bild © Go East

Gerritsen: Natürlich gibt es die Rolle der Frau als Großmutter, also mehrere Generationen von Frauen, die sich umeinander kümmern. Es geht natürlich auch um Pflege, aber andererseits gibt es auch zum Beispiel den ungarischen Dokumentarfilm "Stream of Love".

Der Titel ist ein bisschen kitschig, aber der Inhalt ist fantastisch. Der spielt in einem Dorf in den Transkarpaten, wo eigentlich nur noch alte Menschen wohnen und diese alten Menschen, die haben alle ein aktives Sexleben, reden offen darüber und mit sehr, sehr viel Humor.

hessenschau.de: Sie zeigen auch Filme aus Usbekistan, letztes Jahr auch aus Kasachstan, das geht weit über Mittel- und Osteuropa hinaus. Ist das die Zukunft für das Go-East-Festival, diese Fokussierung auf Zentralasien?

Gerritsen: Eigentlich gab es bei uns immer schon Filme aus Zentralasien und auch aus dem Kaukasus, aus dem einfachen Grund, dass diese Länder Teil der Sowjetunion waren und wir auch viele historische Programme zeigen. Die Kulturen in Europa und Asien unterscheiden sich natürlich, aber es ist sehr spannend zu sehen, was die Gemeinsamkeiten sind zwischen den post-sowjetischen Ländern.

Wenn man zum Beispiel das Baltikum vergleicht mit dem Kaukasus: Da entstehen sehr spannende Diskussionen bei unserem Festival, wenn die Gäste und Filmschaffenden einander begegnen. Die merken, dass sie kulturell und vor allem politisch immer noch viel gemeinsam haben, aber mittlerweile auch sehr weit auseinander gehen.

hessenschau.de: Bei den letzten Ausgaben von Go East waren wenige Filme aus Russland vertreten, dieses Mal sind es nur zwei.

Gerritsen: Ich habe gerade das Programm "Revenge of the Babushka" schon erwähnt. Es gibt außerdem einen Kurzfilm aus Russland, "I Choose to Go". Dabei geht es um eine Frau, die die Blockade Leningrads überlebt hat im Zweiten Weltkrieg.

Heute ist sie politisch aktiv als Antikriegsaktivistin und hat kandidiert als Gouverneurin von St. Petersburg, natürlich mit null Erfolgsaussichten. Trotzdem ist diese Frau sehr kämpferisch und inspirierend.

Und wir haben in unserer Reihe Hommage auch Filme, die technisch in der Sowjetunion entstanden sind und russisch sind. Aber im Wettbewerb haben wir keine.

hessenschau.de: Woran liegt das?

Gerritsen: Damit eine aktive Filmkultur entsteht, braucht man erst mal gewisse politische Voraussetzungen. Man merkt zum Beispiel, dass sich in Polen die Situation wieder zum Positiven hin entwickelt. Also, dass dieses Autoritäre jetzt mittlerweile nicht mehr alles bestimmt im Land.

Und sofort sehen Sie, dass da wieder interessante Filmkunst entsteht, die wir auch im Wettbewerb haben. Das war in den letzten Jahren wirklich schwierig.

Mir hat das leidgetan, weil wir eine sehr aktive polnische Community hier im Rhein-Main-Gebiet haben, die auch gerne ins Kino gehen, die sehr kulturell interessiert sind. Wir haben einfach keine würdigen Filme für diese Zielgruppe gefunden.

Schwarzweissfoto: Eine Gruppe Männer in Kleidung der 40er Jahre. Einer hält eine Pistole.
Szene aus "Das Gesetz und die Faust" (Polen 1964) Bild © Go East Filmfestival

hessenschau.de: 2001, als das Go East anfing, waren Filme aus Osteuropa ein blinder Fleck in der hiesigen Filmlandschaft. Ist dieser blinde Fleck durch das Festival verschwunden oder zumindest kleiner geworden?

Gerritsen: Das würde man gerne so sehen. Ich sehe, dass unser Publikum jünger wird. Das ist natürlich toll, dass dieses Interesse nach wie vor da ist.

Aber es ist auch ein riesiges Gebiet, womit wir uns auseinandersetzen. Sie haben schon erwähnt, Kasachstan, Usbekistan … Also eigentlich alles ab der deutsch-tschechischen Grenze ostwärts ist damit einbegriffen. Da gibt es natürlich immer noch ganz viele blinde Flecke. Also, dieses Festival wird auch in den nächsten 25 Jahren noch relevant bleiben.

hessenschau.de: Sie zeigen immer mehr Werke, dieses Jahr 76 Filme aus 43 Ländern. Wie kommt diese Auswahl zustande?

Gerritsen: Ich mache das natürlich nicht alleine. Wir arbeiten zusammen mit Kuratorinnen aus den verschiedenen Ländern. Es ist wichtig, dass Menschen die Filme richtig einschätzen können, bestimmte kulturelle Unterschiede erklären können. Unser Team hier guckt dann, ist das für ein deutsches Publikum verständlich?

In 25 Jahren Go East ist auch ein enormes Netzwerk entstanden. Die Filmfestivals im Mittel- und Osteuropa, Produktionsfirmen, Archive, Filminstitutionen, die kennen uns und schicken uns auch Tipps.

hessenschau.de: Sie sagten vorhin, das Publikum des Go East wird immer jünger. Hat das auch damit zu tun, dass Sie in einer eigenen Reihe die Arbeiten von jungen Filmemachern zeigen?

Gerritsen: Ich denke schon. Wir arbeiten schon immer viel mit Studierenden. Das Nachwuchsprogramm heißt East-West Talent Lab. Es geht darum, Talente aus Mittel- und Osteuropa zu vernetzen mit Talenten hier aus Hessen.

Hessen ist ein Bundesland, wo immer mehr produziert wird, wo auch die Filmkunst immer aktiver gefördert wird von Hessen Film und Medien. Deshalb ist es eine dankbare Aufgabe, da junge Filmschaffende miteinander zu verknüpfen. Das hat auch schon gefruchtet.

Wir sehen, dass Projekte, die bei uns zum ersten Mal vorgestellt werden, noch in der Entwicklungsphase, dann auch umgesetzt werden. Sie gewinnen Preise, gehen  international auf andere Festivals und schaffen es dann sogar manchmal zu uns zurück in den Wettbewerb.

hessenschau.de: Sie arbeiten daran, den Blick auf die Gesellschaften Mittel- und Osteuropas zu richten, Unterschiede hervorzuheben, aber auch Gemeinsamkeiten. Wo sind die Anknüpfungspunkte für das Publikum in Wiesbaden?

Gerritsen: Persönliche Geschichten können sehr universell sein, auch wenn sie in einem anderen Kontext stattfinden. Dramatische Ereignisse wie Sterbefälle oder Krankheit, Liebesbeziehungen, die zu Ende gehen, das sind sehr universelle Sachen, womit jedes Publikum sich identifizieren kann. Das ist dann auch ein Weg, Verständnis zu kreieren für andere Kulturen, indem man halt diese Gemeinsamkeiten sieht und Empathie empfindet.

Anastasia Lapsui zum Beispiel kommt von der Halbinsel Yamal in Sibirien aus der indigenen Kultur der Nenzen. Sie ist wirklich nomadisch aufgewachsen, ihre Familie lebte von der Rentierzucht. Dann kam die Sowjetunion und sie wurde zwangsweise in ein Internat geschickt, konnte kein Russisch, musste zum ersten Mal russisches Essen essen. Sie hat über diese Erfahrungen Filme gemacht.

Das ist für uns natürlich sehr fremd. Aber die Geschichte, die sie da erzählt vom Verlust oder die Begeisterung über eine schöne Landschaft, das ist sehr universell. Dafür wird hoffentlich auch ein deutsches Publikum sich begeistern können.

hessenschau.de: Sie haben das Go East Film Festival seit 2017 geleitet, nach dieser Ausgabe übernimmt Rebecca Heiler das Amt. Sie selbst werden Künstlerische Direktorin der Deutschen Kinemathek in Berlin. Macht Sie das wehmütig?

Gerritsen: Natürlich werde ich Go East vermissen, denn es ist ein einzigartiges Filmfestival. Ich freue mich darauf, als Gast mal vorbeizukommen, ohne Verantwortung. Wir geben das Festival in gute Hände. Das ist ein 1A-Team, da mache ich mir gar keine Sorgen.

Weitere Informationen

Go East

Das Festival zeigt noch bis 29. April insgesamt 76 Filme aus 43 Ländern. Spielstätten sind außer in Wiesbaden auch in Frankfurt, Darmstadt, Gießen und Mainz.
Das ganze Programm gibt es hier.
Die Filme werden in den Originalsprachen mit englischen sowie in der Caligari Filmbühne mit zusätzlichen deutschen Untertiteln gezeigt. Unter anderem bei den Filmgesprächen im Anschluss könenn Besucherinnen und Besucher mit den Filmschaffenden ins Gespräch kommen.

Ende der weiteren Informationen

Redaktion: Alexandra Müller-Schmieg

Sendung: hr INFO,

Quelle: hessenschau.de