40 Jahre Gedenkstätte Eingeritzte Spuren in den Wänden zeugen von Nazi-Verbrechen im KZ Breitenau

Es sieht aus wie ein Kloster, war aber im "Dritten Reich" ein Konzentrationslager: Die Gedenkstätte im ehemaligen Kloster Breitenau ist bis heute ein Ort voller Gegensätze. Seine grauenvolle Geschichte wurde vor Jahrzehnten durch Zufall aufgedeckt.

Gedenkstättenleiterin Ann Katrin Düben steht vor der Breitenauer Klosterkirche
Gedenkstättenleiterin Dr. Ann Katrin Düben steht auf dem Appellplatz des ehemaligen Konzentrationslagers Breitenau. Bild © Leander Löwe
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Im Jahr 1979 erhält Dietfrid Krause-Vilmar einen schier unlösbaren Auftrag: Mit zwei Kollegen soll der damals noch junge Geschichtsprofessor für die Kasseler Stadtverordnetenversammlung die NS-Vergangenheit der Großstadt aufarbeiten.

Während eines wissenschaftlichen Interviews für das Mammutprojekt fallen zwei Worte, die ihn stutzig machen: "Akten" und "Breitenau". Durch diesen Zufall findet er einen totgeschwiegenen Ort des Verbrechens – und eines der frühesten Konzentrationslager der NS-Geschichte.

Ein älterer Herr sitzt auf einer Bank vor Bäumen und einem alten Gebäude
Er fand die Akten im Keller: Dietfrid Krause-Vilmar, Professor und Mitgründer der Gedenkstätte Breitenau. Bild © Leander Löwe

"Beim Wort Akten klingelt es bei jedem Historiker ganz laut"

Bis in die siebziger Jahre standen die Akten zum Konzentrations- und Strafgefangenenlager Breitenau im Keller eines kleinen Fachwerkhauses auf dem historischen Klostergelände bei Guxhagen, unbeachtet und verstaubt. Krause-Vilmar fand sie dort.

"Das waren Papierberge", erzählt der Historiker, "und hinter jedem Blatt ist eine ganze Lebensgeschichte versteckt, eine Leidensgeschichte." Dem heute 84-Jährigen sei sofort klar gewesen, was dort vor ihm schlummerte. Es folgten Jahrzehnte der wissenschaftlichen Aufarbeitung.

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Gedenkstätte Breitenau

Als erste NS-Gedenkstätte 1984 in Hessen gegründet, leistet die Gedenkstätte Breitenau seit 40 Jahren Erinnerungsarbeit.

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Ein altes Steingebäude mit einem politischen Banner und einem Baum
Mit Sitz in der 150 Jahre alten "Zehntscheune": Die Gedenkstätte Breitenau feiert 40-jähriges Jubiläum. Bild © Leander Löwe

Eine lange Geschichte der Verbrechen in Breitenau

Vor exakt 150 Jahren richtete der preußische Staat im ehemaligen Kloster Breitenau eine Anstalt ein. "Arme Menschen wurden hier kriminalisiert und sollten der Norm der Mehrheitsgesellschaft angepasst werden", erklärt die Leiterin der Gedenkstätte Ann Katrin Düben. Ab 1933 sei dieser Umgang immer radikaler geworden.

Unmittelbar nach der Machtübertragung hätten die Nationalsozialisten Anspruch auf das Heim erhoben. Schon am Tag nach der Übernahme der Bauten seien erste politische Häftlinge untergebracht worden, sagt Düben. Danach entfaltete sich die gesamte nationalsozialistische Verbrechens- und Verfolgungsgeschichte in Guxhagen-Breitenau.

Eine zerkratzte Wand, daneben eine Kloschüssel und eine offene Tür
Heute steht die Tür offen: Der Blick aus einer Zelle in das Treppenhaus der ehemaligen Klosterkirche. Bild © Leander Löwe

8.500 Häftlinge aus 21 Nationen

Bereits in den Jahren 1933 und 1934 eingerichtet, gilt der Ort als eines der frühesten Konzentrationslager des Dritten Reiches. Sechs Jahre später folgten nach der Verfolgung politisch Oppositioneller die Inhaftierung von Jugendlichen, Zwangssterilisationen, die Deportation von Jüdinnen und Juden und Zwangsarbeit.

Im sogenannten Arbeitserziehungslager Breitenau der Kasseler Gestapo waren insgesamt etwa 8.500 Häftlinge mit 21 verschiedenen Nationalitäten inhaftiert. Viele von ihnen hinterließen der Nachwelt eingeritzte Botschaften in den Isolationszellen. Eines dieser Schicksale arbeitete die Gedenkstätte kürzlich in einem Podcast auf.

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Wer war Ludwig Hies?

Der Frankfurter Arbeiterjunge Ludwig Hies wurde mit 17 Jahren in Breitenau inhaftiert. Vier Mal musste er mehrere Tage in einer Isolationszelle verbringen. In den Wänden der Zelle hat er sich drei Mal verewigt. Anhand seiner Akte lässt sich heute auf die dazugehörige Familiengeschichte schließen. In Kooperation mit der Uni Kassel beleuchtet der Podcast "Spuren" Geschichten wie seine.

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Mehrere Ritzungen in einer beleuchteten Wand
Eingeritzt in der Wand der Isolierzelle: Ludwig Hies Schicksal konnte von der Gedenkstätte aufgeklärt werden. Bild © Leander Löwe

Im KZ Breitenau starben Unschuldige, während Nazi-Karrieren begannen

Auch für die Vernetzung von Tätern spielte das frühe KZ Breitenau eine große Rolle: So war Karl Otto Koch, der berüchtigte Lagerkommandant von Buchenwald, Ausbilder der örtlichen SS-Wachmannschaften.

Neuen Erkenntnissen zufolge nahm Koch Personen aus diesen SS-Wachmannschaften mit, die ihn auf dem Weg durch das KZ-System begleiteten. "Das heißt: Hier begannen tatsächlich Karrieren", sagt Gedenkstättenleiterin Ann Katrin Düben. Noch einen Tag vor der Befreiung durch die Amerikaner erschoss die Gestapo auf dem Gelände 28 Gefangene.

Gedenkstättenleiterin Ann Katrin Düben steht vor der Breitenauer Klosterkirche
Mit der Aufarbeitung von Einzelschicksalen beschäftigt: Gedenkstättenleiterin Dr. Ann Katrin Düben. Bild © Leander Löwe

Die Idylle als Herausforderung für den Gedenkort

Heute wirkt das Gelände der Gedenkstätte rund um das umgebaute Klostergebäude aus dem Jahr 1113 friedlich, teilweise sogar idyllisch. Für die Einrichtung ist das laut Düben herausfordernd: Besucher seien erstmal etwas orientierungslos, oft fiele es schwer nachzuvollziehen, was wo geschah.

Nach 40 Jahren der Aufarbeitung solle deshalb nun das historische Gelände zum Sprechen gebracht werden. Düben wolle eine verbesserte Wegführung anbieten und das Klostergebäude zugänglicher machen.

Das Kloster von Breitenau
1113 als Kloster gebaut, ab 1933 von den Nationalsozialisten als KZ und Arbeitslager genutzt: die romanische Kirche in Breitenau. Bild © Leander Löwe

Weitere Forschung in den kommenden Jahren

"Breitenau schließt nie ab", sagt auch Krause-Vilmar. Die Spuren des Faschismus blieben in den Familien der Opfer und prägten diese über Generationen hinweg.

Die Akten hätten zwar die Unschuld aller Opfer und die Existenz des Konzentrationslagers belegt, sagt er. Gerade im Hinblick auf die Schicksale der Inhaftierten und der Baugeschichte gäbe es aber noch Forschungslücken, die es zu Füllen gelte.

Redaktion: Katrin Kimpel

Sendung: hr-info,

Quelle: hessenschau.de