Aktion #ichbinnochgut Warum Kasseler Architekten alte Gebäude bewahren statt abreißen wollen
Fassade hässlich, Architektur von gestern, Material veraltet: Viele Bauherren entscheiden sich gegen einen Um- und für den Neubau. Das ist schlecht fürs Klima, sagen die Architects 4 Future. Eine Aktion in Kassel soll jetzt für den Erhalt von Gebäuden sensibilisieren.
Vor dem alten Versorgungsamt in der Frankfurter Straße in Kassel prangt auf dem Asphalt ein grellgrünes Graffiti. Es zeigt eine Abrissbirne, die von einer Hand gestoppt wird. Dasselbe Symbol findet man auch an anderen Stellen in der Stadt: vor der Kaufburg in der Friedrich Ebert Straße, dem Franz Ulrich, einem Live-Club am Hauptbahnhof und vor der alten Polizeiwache im Königstor.
Es soll darauf aufmerksam machen, dass dieses Gebäude vom Abriss bedroht oder dem Verfall ausgesetzt sind. Bei insgesamt 13 Gebäuden in Kassel ist das derzeit der Fall. Diese Zahl haben die Architects 4 Future ermittelt – und bei der Aktion #ichbinnochgut markiert. So soll die Öffentlichkeit auf die Gebäude aufmerksam gemacht werden.
Altes Bürogebäude soll Neubau weichen
Die Aktivistinnen und Aktivisten wollen so den gefährdeten Baubestand sichtbar machen. Sie fordern, Gebäude lieber weiter zu nutzen als sie einfach abzureißen - aus Klimaschutzgründen. In Kassel hatte die Gruppe deshalb am Montag vor dem alten Versorgungsamt als besonders markantem Beispiel demonstriert. Das schmucklose Gebäude aus den 1970er Jahren soll 2024 einem Neubau für 350 Wohnungen weichen.
Die Architects 4 Future haben zudem die alte Polizeiwache im Königstor mit in ihre Übersicht aufgenommen, da deren Zukunft ungewiss sei und der Verfall damit weiter voranschreite, so Veronika Pöschel von der Kasseler Ortsgruppe.
Forderung: nachhaltiger Wandel in der Baubranche
Viele Abrissvorhaben wie das in der Frankfurter Straße halten die Bauexperten von Architects 4 Future für sinnlos. Die Baubranche sei "eine der größten Verursacher*innen von Abfallaufkommen und klimaschädlichen Emissionen", also der Freisetzung von festen, flüssigen oder gasförmigen Stoffen in die Atmosphäre, schreiben sie in einer Stellungnahme. Sie fordern einen nachhaltigen Wandel im Bauwesen, um so durch den Erhalt und die Weiternutzung von Bestandsgebäuden Emissionen und Ressourcen einzusparen.
Die Stadt Kassel verweist auf hr-Anfrage an den Eigentümer, die Nassauische Heimstätte/Wohnstadt. Diese wolle im Bereich des alten Versorgungsamtes ein Wohnquartier mit Nahversorgungseinrichtungen realisieren, dazu sollten öffentlich nutzbare Flächen und Wege zur Durchquerung entstehen. Dieses Ziel könne nach einer Prüfung durch den Investor nur durch eine völlige städtebauliche Neuordnung erreicht werden, so ein Sprecher der Stadt Kassel, die in diesem Falle auch den Abbruch des Bestandsgebäudes erfordere.
Zudem habe die Stadt in der Regel keinen Einfluss darauf, wie Bauherrinnen und Bauherren mit ihrem Eigentum planten, diese träfen sie mit denen von ihnen beauftragten Architekturbüros. Lediglich bei größeren Projekten nähme die Stadt Kassel eine beratende Funktion ein.
Aufstockung und Umbau selten eine Option für Bauherren
Aber warum entscheiden sich auch andere Bauherren und Investoren meist für den Abriss? Es werde selten über Aufstockungen, Umbauten und Erweiterungen nachgedacht, so Pöschel. Viele glaubten, ein Grundstück durch Abriss besser ausnutzen zu können.
Die Architects 4 Future fordern deshalb zusätzlich zur Bauordnung eine Umbauordnung. Diese könne darauf Rücksicht nehmen, dass man im Bestand nicht die gleichen Möglichkeiten habe, wie im Neubau - und dadurch nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden können. Gleichzeitig sollten aber Abrisse genehmigungspflichtig werden.
Warum ein Umbau sinnvoller sein kann als ein Neubau
Dabei habe der Umbau im Vergleich zum Neubau einen entscheidenden Vorteil, so Pöschel. Würden bestehende Gebäude in ihrer Kernsubstanz weiter genutzt, entstünden keine weiteren Emissionen für den Rohbau oder den Abbruch, auch als "graue Emissionen" bezeichnet. So vermeide man schädliche Emissionen im doppeltem Sinne, so Pöschel, "wir sparen sie durch Verzicht auf Herstellung neuer Baustoffe und wir sparen sie durch Verzicht auf Rückbaumaßnahmen".
Die Stadt Kassel versucht, bei eigenen Projekten Ressourcen und Klima zu schützen und graue Energie in Form von bestehender Bausubstanz zu erhalten. Es komme allerdings immer auf den Einzelfall an, so ein Sprecher der Stadt. Ein Beispiel für eine gelungene Sanierung eines bestehenden Gebäude sei die 2022 abgeschlossene Generalsanierung des Rathausflügels in der Obere Karlstraße aus den 1970er Jahren.
40 Prozent der CO2-Emissionen für Bau und Nutzung von Gebäuden
Dass dieses Vorgehen das Klima schützen kann, zeigt auch eine Untersuchung der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB e.V.). Sie macht Bau und Nutzung von Gebäuden für rund 40 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Sie entstehen während des Bauens, bei der Nutzung und auch beim Abbruch.
Laut Statistischem Bundesamt werden in Deutschland jährlich mehr als 14.000 Gebäudeabrisse erfasst. Die Stadt Kassel erhebe keine Statistik über geplante Abrisse im Stadtgebiet, erklärt ein Sprecher. Aus dem Jahr 2022 sind der Stadt 28 Abrisse bekannt.
Glaubenssatz: Neu = besser
Warum viele Projekte auf bebauten Grundstücken mit Abriss und Neubau geplant werden, hänge auch mit einer konsumgeprägten Kultur zusammen, erläutert Architektin Pöschel: "Es ist ein Glaubenssatz, dass neu immer besser ist". Zudem sei es einfacher, alles wegzuwischen, als sich mit dem Bestand auseinanderzusetzen.
Sie argumentiert dagegen, bei einem Umbau bekomme man die gute Atmosphäre einer gewachsenen Struktur in einem Stadtteil gleich mit dazu: "Die angesagten Viertel sind ja für gewöhnlich auch nicht die, die neu gebaut wurden, sondern die, die man sich kreativ zu eigen gemacht hat".
Sendung: hr4, 05.06.2023, 08:30 Uhr
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