Alte Meister und die Homoerotik Gemäldegalerie Kassel zeigt Ausstellung zu queerer Kunst
"Alte Meister que(e)r gelesen" - das ist der Titel einer neuen Ausstellung im Schloss Wilhelmshöhe. Sie bietet einen neuen Blick auf weltbekannte Sammlungsstücke. Und zeigt, welche erotischen Lesarten es gibt.
Nippel blitzen, das männliche Glied ist spärlich bedeckt, eine Frau fasst einer anderen an die Brust: Motive wie diese, die bei Instagram & Co. zensiert würden, sind derzeit in der Gemäldegalerie in Kassel in einer Ausstellung zu sehen.
Die Schau will einen neuen Blick auf alte Werke werfen. Dabei steht die Mehrdeutigkeit im Mittelpunkt. Der Titel der Schau vermittelt das mit einem Wortspiel: "Alte Meister que(e)r gelesen". Ob "queer" oder "quer" - es liegt im Auge der Betrachtenden, wie sie die Bilder und Statuen anschauen.
Zugang zur Ausstellung: Ein Schrank
Bereits der Einstieg zur Ausstellung ist ungewöhnlich und doch passend: Besuchende steigen durch einen Schrank - als Anspielung auf "to come out of the closet", zu deutsch "aus dem Schrank herauskommen".
Diese Formulierung steht für das Coming-Out und damit für den Prozess, sich seiner eigenen sexuellen Orientierung bewusst zu werden und sich zu ihr zu bekennen.
Gemälde und Skulpturen zeigen Mehrdeutigkeit der Kunst
Gut 40 Objekte werden in der Ausstellung gezeigt, allesamt aus den Sammlungen von Hessen Kassel Heritage (HKH). Die Ausstellungsmacher haben Gemälde und Skulpturen aus ihren Depots geholt und sich bei der Konzeption Hilfe vom schwulen Museum Berlin, der Aids-Hilfe Kassel und der daran angeschlossenen LSTB*IQ-Netzwerkstelle Nordhessen geholt.
Für Kustodin Malena Rotter beweist die Vielzahl der Motive, dass es schon vor Jahrhunderten queeres Leben auch in Mitteleuropa gab.
Queerness: nicht in der Öffentlichkeit, aber in der Kunst
Doch dieses Leben war nicht ohne Risiko - deshalb wurden gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht in der Offenheit gelebt, wie das heutzutage möglich sei, erklärt Justus Lange, Kustos der Gemäldesammlung im Schloss Wilhelmshöhe.
Die queeren Motive tauchten in bildlichen Darstellungen zwar auf, versteckten sich allerdings im Gewand mythologischer Geschichten.
Diese Verpackung in der Mythologie habe den Künstlern eine andere Ebene der Auseinandersetzung eröffnet, ergänzt Rotter. Dabei sei Kunst die Nische gewesen, in der man queeren Themen einen Raum geben konnten, ohne sich selbst zu gefährden.
Mythos als Ausrede
Und so nutzten die Künstler den Raum jahrhundertelang, um anhand mythologischer Motive mit gesellschaftlichen Tabus zu spielen oder gleichgeschlechtliche Liebe zum Ausdruck zu bringen - in Zeiten, in denen homosexuelle Liebe noch als Todsünde galt.
Im Zweifelsfall hätten Künstler immer eine Ausrede gehabt, da keine reale Person dargestellt wurde, sondern lediglich ein Mythos als Sinnbild für etwas, so Rotter. Damit haben man sich abgesichert, um offenere Motive zu gestalten.
Man habe immer auch sagen können: Es geht gar nicht um gleichgeschlechtliche Liebe. Hier ist doch der Frühling zu sehen. Oder die Figuren des Jupiter und Callisto oder Jupiter und Ganymed.
Götterwelt als Möglichkeit, Homosexualität zu zeigen
Viele der Ausstellungsstücke in Kassel haben ihren Ursprung in der Götterwelt. Ein Bild von Jupiter und Ganymed etwa, das sich auf der einen Seite als Motiv aus der Welt der Götter betrachten lässt.
Gleichzeitig habe es eine homoerotische Konnotation, wie Lange erklärt. Um 1800 herum habe man damit begonnen, Ganymed nicht mehr als kleinen Jungen, sondern als Heranwachsenden darzustellen.
Das Motiv von Jupiter und Ganymed galt bereits in der Antike als Sinnbild für Homoerotik. Aber auch als Sinnbild für Pädophilie. Deswegen hätten Motive wie dieses immer wieder zu einer Abwägung und intensiven Gesprächen bei der Ausstellungskonzeption geführt, erklärt HKH-Direktor Martin Eberle.
Das Spiel mit der gewaltvollen Erotik
Ein weiteres Bild zeigt eine gewaltvolle Szene zwischen Herkules und dem jungen Riesen Anthäus. Gemalt hat es Hans Baldung Grien. Er war vor 500 Jahren ein Star der Kunstszene und bekannt dafür, Grenzen zu überschreiten.
Auf dem Bild ist Herkules zu sehen. Er hebt Antäus in die Luft und erdrückt ihn. Muskeln, Venen, das Blut, das aus Antäus' Ohr tropft - all das hält Grien in seinem Gemälde fest.
Es sieht aus wie ein gewalttätiger Liebesakt zwischen Männern. Bisweilen sei eben auch die Erotik nicht ganz gewaltfrei, so Lange. Herkules' Schritt wird durch eine Löwenpranke verdeckt - und dadurch noch stärker betont.
Zwei nackte Frauen als Allegorie des Frühlings
Für den Laien birgt die Ausstellung die ein oder andere Überraschung - auch wenn manches Motiv an Eindeutigkeit kaum zu überbieten ist. So das Bildnis zweier Frauen mit einem Blumengesteck - offiziell eine Allegorie des Frühlings.
Die eine kneift der anderen neckisch in die Brust - für Rotter hat dieses Bild das Potenzial, ein störendes Moment zu schaffen, das zum Nachdenken anregt und zum Austausch mit anderen Museumsbesuchern.
Unterschiedliche Objektbeschriftungen als Diskussionsgrundlage
Um diese Zweideutigkeit zu betonen, haben die Ausstellungsmacher zwei unterschiedliche Museumsschilder mit Erklärungen zu den einzelnen Kunstwerken angebracht. Die eine eher klassisch, die andere modern. Keines der beiden soll sagen, was richtig und was falsch ist.
Man spiele den Ball der Deutung damit zu den Besuchern und Besucherinnen zurück, erklärt Kustos Lange. Das verstörende Potenzial der Kunst passe auch in die heutige Zeit, glaubt er. Denn es sei "nicht immer alles so eindeutig wie wir es uns vielleicht manchmal wünschen", die Dinge seien komplexer.
Ein Punkt ist den Macherinnen und Machern der Ausstellung besonders wichtig, betont Lange: "Es soll eine offene Ausstellung sein, in der jeder und jede willkommen ist”.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 19.12.2023, 16:45 Uhr
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