"Antikörper" in der Jugendhaftanstalt Wiesbaden Dieses Knast-Theaterstück spielt in einem echten Gefängnis
Im Wiesbadener Jugendgefängnis gibt es seit 14 Jahren ein eigenes Theater-Projekt. Die jungen Gefangenen lernen dabei, sich auszudrücken, die Zuschauer bekommen einen Einblick in das Leben hinter Gittern. In der neuesten Inszenierung geht es apokalyptisch zu.
Es ist ein düsteres Zukunftsszenario: Eine Gesellschaftskrise zwingt die Verantwortlichen, das komplette Wachpersonal aus der Wiesbadener Jugendhaftanstalt abzuziehen. 250 Männer werden vollständig isoliert sich selbst überlassen. Sieben Jahre später soll ein Einsatzkommando herausfinden, wie es um die Gefangenen steht.
Das ist die Vorgeschichte des Theaterstücks "Antikörper". Die Zuschauer werden darin selbst zu Protagonisten, nämlich als Mitglieder des Einsatzkommandos. Ausgerüstet mit Schutzanzügen betreten sie das Gefängnis im Westen von Wiesbaden und tauchen ein in die Welt von knapp 300 "echten" Gefangenen.
Sicherheitskontrolle statt Sektchen
Es ist ein ungewöhnliches Theater-Erlebnis. Statt vor der Aufführung ein Sektchen an der Bar zu trinken, passieren die Zuschauer zuerst einmal die Sicherheitskontrolle der JVA.
Seit 14 Jahren gibt es hier das Theaterprojekt "Die Werft", das Häftlingen die Möglichkeit gibt, ihre schauspielerischen Fähigkeiten zu entwickeln und das mit wechselnden Inszenierungen Zuschauer hinter die Gefängnismauern holt.
Sinnliches Video-Erlebnis
In den vergangenen drei Jahren hatte Corona die Aufführungen verhindert, und auch "Antikörper" ist unter Pandemie-Beschränkungen entstanden. Regisseur Peter Protic hat deshalb das Stück als immersive Videoinstallation gestaltet, die das Publikum mit allen Sinnen erlebt – aber ohne persönlichen Kontakt zu den Schauspielern.
Jeweils fünf Zuschauer treffen in den Zellen auf die Projektionen und Stimmen der Häftlinge, die die fiktive Isolationshaft überlebt haben. Am Ende müssen die Zuschauer eine weitreichende Entscheidung treffen….
Autobiografische Züge
Es sei viel Autobiografisches in den Videoarbeiten, aber so verwebt, dass man es nicht mehr zuordnen könne, erzählt Regisseur Peter Protic. "Wir arbeiten mit gezielter Lüge, damit die Beteiligten sich in dem Rahmen, den die Inszenierung bietet, ausleben können."
Einer dieser Protagonisten nennt sich selbst CemCem. In der Welt, in der er aufgewachsen ist, musste er straight sein, um nicht als schwach angesehen zu werden, erzählt er.
Ein Gefühl von Freiheit
Beim Theaterspielen in der "Werft" habe er diese Fassade komplett fallen lassen können, das habe ihm ein Gefühl von Freiheit gegeben. Danach, zurück in der Zelle, habe er die Fassade wieder aufsetzen müssen.
Doch die Theaterarbeit habe ihm viel gegeben, sagt der 27-Jährige: "Allein die Motivation und die Disziplin in Etwas reinzustecken, was am Ende gut werden soll – ich finde, vom Theater kann man nur profitieren."
Belohnung und Applaus – auch ohne Straftaten
Ein großer Fan des Theaterprojekts ist auch Michaela Wasemüller, die Leiterin des Gefängnisses. Sie versteht die Befürchtung einiger Insassen, dass manche Besucher nur aus Neugierde kämen, um "echte" Gefangene zu sehen.
Sie selbst wäge immer ab zwischen Öffentlichkeit und Schutz ihrer Insassen. Das Ziel einer Jugendvollzugsanstalt sei, die jungen Menschen zu befähigen, im Anschluss an die Haft ein Leben ohne Straftaten zu führen. Dafür sei die Theaterarbeit hervorragend geeignet, findet sie: "Die Jugendlichen leisten so etwas Großes. Es gibt eine Belohnung und einen Applaus. Das ist eine Erfahrung, die viele in ihrem Leben außerhalb der Anstalt niemals machen könnten."
Sendung: hessenschau, 29.11.2022, 19.30 Uhr
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